Der Berufsverband Information Bibliothek hat, im Anschluss an das eigentlich gescheiterte Projekt Bibliothek 2007, eine Arbeitsgruppe gebildet, die eine Fortführung dieses Projektes organisieren wollte. Vorgelegt hat diese Arbeitsgruppe vor einiger Zeit das Strategiepapier „21 gute Gründe für gute Bibliotheken”. Es gab zu diesem nicht nur eine Veranstaltung auf dem Bibliothekstag, sondern auch ein Blog, in dem eigentlich eine Diskussion über das Papier stattfinden sollte. Leider scheint dieses Blog nahezu vollkommen untergegangen zu sein, bis dankeswerterweise Patrick Danowski darauf hinwies. Er selber äußerte in fünf Teilen Kritik an dem Papier (1, 2, 3, 4, 5), tene hat in ihrem Blog das Papier daraufhin in drei Teilen (1, 2, 3) kritisiert, Prof. Umstätter meldete sich in der inetbib-Liste zu Wort. Eine wirkliche Diskussion ist dies noch nicht, aber immerhin ein Anfang. Auch ich möchte einen Beitrag zu diesem Text beisteuern, immerhin soll das Strategiepapier nach Vorstellung der Arbeitsgruppe in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle im deutschen Bibliothekswesen spielen. Mir ist zwar nicht klar, wie man sich dies nach dem eigentlich folgenlosen Auslaufen der Vorgängerprojekts vorstellen soll. Aber immerhin besteht der Anspruch.
Im Gegensatz zu den anderen Kritiken, die sich sehr am Text selber orientierten, würde ich gerne das Papier allgemeiner kritisieren, wobei diese Kritik nicht als Verriss gelesen werden sollte, sondern an etwas, dass man in anderen Kreisen als „solidarische Kritik“ verstehen würde.
Wozu?
Grundsätzlich muss ich eingestehen, dass ich nicht hinter das Konzept des Textes gestiegen bin. Ich meine: hinter die Idee eines Strategiepapieres. Ein Strategiepapier, wie ich es kenne, schreibt man im Rahmen eines Selbstfindungsprozesses politischer Initiativen. Dafür treffen sich die Mitglieder der Initiative, man tauscht sich darüber aus, was man bisher gemacht hat, was die persönlichen Ziele sind, was man sich in nächster Zeit erwartet. Nach einigen heftigen Streitigkeiten schreibt dann eine Gruppe alle akzeptierten Ziele zusammen, die Anwesenden nicken es ab. Und danach legt man das Papier zu den Akten und macht mit der politischen Arbeit weiter. So ungefähr kenne ich es: ein Papier, dass als Ergebnis am Ende einer, zum Teil drastischen, gemeinsamen Auseinandersetzung einer Organisation steht und auf das sich anschließend kaum jemand mehr bezieht, weil das wichtige am Erstellen des Papiers der Rekonstitutionsprozess im Laufe der Debatten ist, nicht der Text, der am Ende geschrieben wird. Die Wirkung eines solchen Strategiepapiers ist immer eine interne.
Aber darum geht es bei „21 gute Gründe für gute Bibliotheken“ offenbar nicht. Das Papier ist kein Ergebnis eines Diskussionsprozesses des Bibliothekswesens. Und offensichtlich ist das Bibliothekswesen auch nicht das anvisierte Gesprächsumfeld, in das hinein das Papier wirken soll. Das war bei Bibliothek 2007 schon ähnlich unverständlich, aber immerhin gab es bei dem damaligen Papier noch etwas zu diskutieren. Bei „21 gute Gründe“ ist es mir vollkommen unnachvollziehbar, an wen sich das Papier richtet, was es bewirken soll, was es mit dem Bibliothekswesen zu tun hat und was eigentlich seine strategische Aufgabe sein soll. Es ist einfach da und macht einige Aussagen. Aber es hat noch nicht mal mich, der eigentlich im Zweifel dann doch immer für die Bibliothek ist, überzeugt – weil: ich weiß gar nicht, wovon es mich überzeugen soll.
Wenn ich es richtig aus Bibliothek 2007 abgeleitet habe, soll ein solches Strategiepapier dazu dienen, Bibliotheken in politischen Debatten zu verankern. Was auch immer das wieder heißen soll. Sollen Politikerinnen und Politiker das Papier lesen, sich an den Kopf fassen, „ja, stimmt, wie konnte ich das nur vergessen?“ murmeln und dann sofort für eine Umverteilung des Etats sorgen? Vielleicht haben andere Menschen ja andere Erfahrungen, aber ich habe nun schon einige Jahre auf unterschiedlichen Ebenen und Themenfeldern Politik gemacht, hatte dabei unterschiedlich engen Kontakte zu Politikerinnen und Politiker der drei politischen Ebenen (Kommune, Land, Bundesrepublik) in allen Parteien zwischen CDU und Linkspartei und fast allen großen gesellschaftlichen Institutionen von Gewerkschaft bis Bund der Arbeitgeber. Diese Menschen haben viele Fehler, alle. Aber – solange sie nicht gerade vollkommen neu im politischen Geschäft sind – sind diese Menschen alle sehr rational denkende und handelnde Wesen, die bekanntlich einen Bildungshintergrund haben, der weit über dem gesellschaftlich durchschnittlichen liegt. Sie wissen, was Werbetexte sind, sie lassen sie auch regelmäßig aus der Post entfernen. Sie wollen, um Entscheidungen zu treffen, klare Aussagen, nachvollziehbare Zusammenhänge und ein erkennbares Gesamtkonzept. Und dies bitte kurz und knapp. Eine Meinung haben sie schon alleine, dafür sind sie ja in der Politik. Alles andere ist Parteitagslyrik, die man bei offiziellen Veranstaltungen über sich ergehen lässt, aber ansonsten ignoriert. Anders würde das politische Geschäft nicht funktionieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Effekt bei solchen Menschen der Text mit den „21 guten Gründen“ haben soll. Ehrlich gesagt wäre ich überrascht, wenn er in seinem jetzigen Umfang und seiner Aufmachung überhaupt von Sekretariat weiter gereicht würde. Aber abgesehen davon fehlt dem Text einfach die inhaltliche Substanz. Die behaupteten Effekte, die Bibliotheken angeblich haben, sind nicht untermauert (Merksatz: „Don’t argue, proof it.“), die Aussagen, die getroffen werden sollen, muss man zumeist raten, zumindest sind sie nicht klar erkenntlich und viel schlimmer: auch wenn man den Text mehrfach gelesen hat, wird nicht klar, was von den Lesenden nun erwartet wird. Bei den meisten Textabschnitten ist einfach nicht klar, was nun das jeweilige Argument sein soll. Das sollte eigentlich in jedem Text klar werden, der politische Relevanz erlangen will. Notwendig ist eher folgende Struktur: Aussage – Beweis – Handlungsmöglichkeiten. Ob die Aussage dann akzeptiert wird, der Beweis anerkannt oder die Handlung vollzogen, ist dann eine andere Sache.
Und nochmal aus meiner Erfahrung: ausnahmslos scheinen mir (verantwortliche) Politikerinnen und Politiker gestanden Menschen zu sein, zumeist mit Hochschulabschluss. Hingegen ist der Text, sowohl in seinem Aufbau, als auch nach seiner Diktion … tja, albern. Ein wenig erinnert er an Kinderbücher, über weite Strecken auch an missglückte Versuche von Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern, Jugendliche über eine angebliche Jugendsprache „zu erreichen“, anstatt klar zu sagen worum es geht. Polikerinnen und Politiker sagen das nicht so direkt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich vom belehrend-kumpelhaften Duktus des Textes genauso verarscht vorkommen werden, wie ich. Garantieren tue ich dies zumindest für alle unter 30. [1]
Es ist mir also zusammengefasst nicht klar, wozu es überhaupt ein Strategiepapier geben soll und warum dann ein solches.
Wo ist das?
Abgesehen davon scheint der Text von einer kontinuierlichen Überschätzung der realen Leistungsfähigkeiten der (durchschnittlichen) Bibliotheken in Deutschland gezeichnet zu sein. Das hat auch damit zu tun, dass bestimmte Aufgaben von Bibliotheken beständig betont werden (Medien zu Verfügung stellen, Informationen beschaffen) und dafür andere Aufgaben einfach nicht vorkommen. Genau einmal wird erwähnt, dass Bibliotheken (angeblich) die drohende Spaltung der Gesellschaft verhindern würden, was so simpel gedacht überhaupt nicht stimmt. [2] Einmal steht im Text etwas von Meinungsvielfalt, die durch Bibliotheken ermöglicht würde; einmal etwas von großer Medienkompetenz, die in Bibliotheken verbreitet sei; einmal wird die kulturelle Funktion von Archivbibliotheken angedeutet. Die Bibliothek als soziale und gesellschaftliche Einrichtung kommt im ganzen Text nicht vor. Das ist selbstverständlich eine politisch bedeutsame Aussage.
Aber was an bibliothekarischer Arbeit geschildert wird, scheint aus einer anderen Dimension zu stammen, in der Bibliotheken politisch, vom Etat und der Zukunftsperspektive her längst abgesichert sind: alles klappt super. Ständig will man die Autorin an die Hand nehmen und durch ein paar zufällig ausgesuchte durchschnittliche Bibliotheken führen und sagen: schauen sie, Bibliotheken geht es schlecht, das Personal ist überarbeiten, das meiste ist Improvisation und jede Bibliothek hat unlösbare Aufgaben im Keller, die sie seit Jahren vor sich herschiebt. Die meisten Medienkompetenzen mussten sich die Bibliothekarinnen und Bibliothekare selber aneignen. Warum sollen die besser sein, als die der Gesamtbevölkerung? Fast alles ist veraltet, fast alles ist zu knapp. Das ist die Realität. Let’s face it.
Vielleicht soll diese beständig positive Darstellung der Situation eine Utopie sein, ein Bild, wie Bibliotheken funktionieren könnten. Es scheint öfter, als würden hier bibliothekarische Träume von funktionierenden Bibliotheken geschildert und nicht die Realität. Nichts gegen Utopien. Aber: wer soll damit überzeugt werden? Keine Politikerinnen und Politiker, denn diese wissen zumeist sehr genau, wenn sie dafür verantwortlich sind, wie die Situation „ihrer Bibliotheken“ ist. [3]
Neben dieser beständigen Überschätzung von Bibliotheken scheint der Text durchzogen von einer teilweise schon beleidigenden Unterschätzung der Nutzerinnen und Nutzer. Beständig scheint der eigentlich seit einigen Jahrzehnten obsolete Gestus der Volksbildung durch, wo der wissende Bibliothekar der dummen Bevölkerung beibringen muss, wie man mit Büchern umgeht, wie man Informationen findet etc. Insbesondere die beständige Angst vor der Informationsflut, die im Text aufgerufen wird, stellt die Nutzerinnen und Nutzer als bedrängte Wesen dar, denen geholfen werden muss. Das unterschätzt einfach, dass auch schon bisher der Großteil der Menschen relativ funktionale Strategien entwickelt hat, mit diesem Aufkommen einer beständig steigenden Zahl von Informationen umzugehen.
Dazu kommt, dass die Vorstellung davon, wie und wieso Menschen eigentlichen Bibliotheken nutzen, ebenso an der Realität vorbei zu gehen scheinen. Da tauchen im Text beständig Menschen auf, die klare Informationsbedürfnisse haben, die für klare Lernaufgaben in die Bibliothek kommen, die genau wissen, was sie eigentlich wollen. Rekreation, browsen, rumhängen, Zeit rumbringen und Ähnliches wird nicht einmal erwähnt, außer wenn es irgendwas mit Lernen zu tun hat. Und wieder möchte man die Autorin an die Hand nehmen und für einige Tage in einige durchschnittliche Bibliotheken setzen, um sich einmal anzuschauen, was die Menschen da eigentlich tun. Sicher wird sie ein paar Menschen mit klaren Informationsbedürfnissen sehen, aber nur sehr wenige.
Absurd wird es, wenn die Autorin versucht, die Bedeutung von Bibliotheken für den Alltag anhand von Beispielen zu untermauern. Sie führt einmal ein deutsch-türkisches Mädchen an, dass in der Bibliothek deutsch und türkisch lernen würde und eine Vater hätte, welcher sich vor seiner Einbürgerung in der Bibliothek in deutsch und türkisch über die Bundesrepublik informiert hätte. Das ist dann doch eher ein Mythos. Eine deutsche Bibliothek, die tatsächlich einen fremdsprachigen Bestand hat, aus dem man relevante Informationen über das politische System Deutschlands ziehen könnte, noch dazu einen aktuellen, ist eine Rarität. Es gibt sie, aber wie viele werden das sein? Und wie viele werden dass sein, wenn man nicht türkische oder englische Texte sucht? Das Bild ist als Utopie brauchbar, aber nicht als Beschreibung der Realität des deutschen Bibliothekswesens. Und die Idee, dass Bibliotheken von Menschen verwendet werden, um politische Informationen zu erhalten, geistert zwar schon länger in der bibliothekarischen Debatte herum, aber jeder Versuch, dies beispielsweise im englisch-sprachigen Bibliothekswesen empirisch zu bestätigen, geht beständig schief. Die Menschen befragen immer zuerst Menschen, denen sie vertrauen, dann sehr viele andere Stellen und Medien und erst am Ende die Bibliothek. Egal, wie sehr diese in der Community verankert ist und egal, wie groß der Respekt vor der Arbeit in Bibliotheken bei den Menschen ist.
Das Bild vom deutsch-türkischen Vater ist also eines, dass mit der Realität in deutschen Bibliotheken nichts zu tun hat. Vielleicht gibt es ihn irgendwo, aber er wird einer von hundertausend sein.
Die Autorin zählt aber auch noch einige Menschen auf, welche die Bibliothek für ihre Arbeit brauchen: einen Übersetzer, einen Redenschreiber für ein Ministerium und einen Althistoriker. Okay. Nichts gegen Übersetzer und Althistoriker, beide tun eine wichtige Arbeit. (Redenschreiber, naja.) Das sind die drei Berufe, die angeführt werden, um zu zeigen, dass Bibliotheken für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Nur wieviele Prozent der Bevölkerung sind das wohl? Ich schätze mal, dass das noch nicht einmal ein Prozent sein wird. Was ist mit den anderen Menschen und Berufen? Das Übersetzer und Althistoristoriker Bibliotheken brauchen, wird niemand bestreiten. Aber so ausgewählt, wie die Beispiele sind, können sie schnell nach hinten losgehen: über 99% der Bevölkerung scheinen dem Papier nach keine Bibliothek zu benötigen.
Bäh, Computer
Die Autorin mag das Internet nicht. Das wird im Text offensichtlich. Sie scheint zwar nur Google zu kennen, aber das reicht offenbar. Wirklich absonderlich wird das, wenn sie Lesen mit „Bücher lieben“ in Beziehung bringt. Irgendwie scheint ihr entgangen zu sein, dass das Internet an sich eine textlastige Angelegenheit ist und gerade wegen dessen Verbreitung von einer Wiederzunahme der Bedeutung des Lesens ausgegangen wird. Allerdings scheint sie mit dieser Haltung: ja, das Internet gibt es, aber wir haben Bücher und wissen auch ansonsten besser über Informationen Bescheid, als der Rest der Welt, tatsächlich einmal eine Meinung zu vertreten, die mit der realen Meinung vielen Bibliothekarinnen und Bibliothekare übereinstimmt. Und selbstverständlich ist eine solche Meinung für eine und einen persönlich möglich. Aber wozu das in einen offiziellen Text schreiben, der – wie auch immer – die Zukunft der Bibliotheken bestimmen soll?
Vor allem geht dies vollkommen an der realen Bedeutung des Internets in der Gesellschaft vorbei. Es ist doch offensichtlich, dass das Internet nicht der Feind ist, sondern von den meisten Menschen im größeren Medienverbund genutzt wird. Und zwar nicht alleine als Informationsliefermaschine, sondern – wie andere Medien auch – ebenso als Teil der Freizeit und der Freitzeitgestaltung. Das Internet ist integraler Bestandteil des Medienalltags vieler Menschen geworden, ohne dass davon die Welt schlechter geworden wäre. [4] Ebenso Spielkonsolen. Warum muss dann in einem Text, der 2008 geschrieben wurde, eine beständige Grenze zwischen der Bibliothek / den Büchern und dem Internet gezogen werden?
Die Frage kann man schon zu Beginn des Textes stellen, wo wieder einmal gesagt wird, dass Bibliotheken trotz Internet notwendig seien. Wann hat man den bitteschön etwas anderes gehört? Irgendwie scheint sich hier eine Bedrohung durch das Internet in den Köpfen von Bibliothekarinnen, Bibliothekaren und Autorinnen, die Bibliotheken unterstützen, festgesetzt zu haben, die nicht mehr existiert. Falls tatsächlich einmal irgendein Politiker oder eine Politikerin ernsthaft behauptetet hat, dass Bibliothek durch das Internet abgelöst würden, ist das schon so lange her, dass man es einfach vergessen sollte. Die Probleme sind andere.
Wunschzettel
Beendet wird der Text mit dem Abschnitt „Was Bibliotheken brauchen“. Dieser Abschnitt ist nicht viel mehr, als eine Wunschliste, die größtenteils aus Bibliothek 2007 abgeschrieben wurde. Wozu? Keine Ahnung. Auffällig ist erstmal, dass in der Liste selber mehrere Punkte enthalten sind, die schon, als sie in Bibliothek 2007 standen, diskutiert hätten werden müssen. Und zweitens fällt auf, dass diese Wunschliste mit den Text zuvor nichts zu tun hat. Da erscheinen auf einmal solche Aussagen, wie, dass Bibliotheken nah sein müssen, Vernetzung und Standards brauchen, ohne dass das irgendwie begründet wurde. Der Text und die Wunschliste: sie haben einfach überhaupt nichts mit einander zu tun, auch wenn es den Anschein hat, weil sie in einem Dokument stehen. Ehrlicher wäre es, wenn der letzte Abschnitt unter der Überschrift „Wir wünschen uns“ oder – da es letztlich eine Fortschreibung von Bibliothek 2007 ist – „Wir und die Bertelsmann-Stiftung wünschen uns“ separat veröffentlicht würden. Da wüsste man zumindest, woran man ist.
Aber auch so sollte die Liste besser noch einmal im Bibliothekswesen diskutiert werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gegeben wird. So wird beispielsweise einfach mal ein Anbindung an – angeblich etablierte – internationale Standards, die Einrichtung einer Bibliotheksentwicklungsagentur, die Vernetzung mit anderen Einrichtungen oder die Ausweitung der Öffnungszeiten von Bibliotheken auf das Wochenende gefordert; obwohl es zu all diesen Punkten auch gewichtige Gegenargumente geben würde, gäbe es den eine Debatte. Standards bringen nicht halb so viel, wie gerne vermutet wird, und produzieren stattdessen viel Sonderarbeit; eine Bibliotheksentwicklungsagentur ist solange sinnlos, solange nicht gesagt wird, was die eigentlich tun soll [5]; Wochenendöffnungszeiten heißt, dass die auch jemand abdecken muss und da gibt es aus Sicht der Beschäftigten auch gute Gründe gegen. Für mich scheint diese Liste überhaupt nicht publikationswürdig.
Kleinigkeiten
Daneben gibt es noch kleinere Sachen und Formulierungen, die ich kritisch sehe:
- blame parents: In Deutschland scheint es üblich, dass niemals die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen Schuld sind, wenn mit Kindern und Jugendlichen etwas nicht stimmt, sondern immer die Eltern. Während in anderen Staaten Schulen und Bibliotheken den Fehler auch bei sich suchen, wenn die jeweiligen Bildungsziele nicht erreicht werden und daraus auch (immer bestreitbare) Konsequenzen ziehen, springt der Text einfach auf den deutschen Diskurs auf. Wozu? Der Großteil der Eltern ist von den zahlreichen Vorwürfen und Ansprüchen schon überfordert und versucht trotzdem das Bestmögliche. Da ist ein Satz, wie der folgende, vollkommen unnötig und inhaltlich zudem falsch: „Viele Kinder lernen das [Lesen] zu Hause nicht mehr, weil da keiner ist, der mit ihnen Bilderbücher blättert oder ihnen vorliest – Vor-lesen auch im Sinne von: Vorbild sein. Viele Kinder sehen zu Hause niemanden mehr beim Lesen, niemanden, den man jetzt nicht stören soll, weil er liest, niemanden, der später begeistert erzählt, was er wieder für abenteuerliche Dinge aus einem Buch oder einer Zeitung erfahren hat.“
- Die Autorin will darstellen, dass Bibliotheken für die wissenschaftliche Arbeit notwendig seien und schreibt deshalb folgenden Abschnitt: „90 Prozent aller Studierenden und Wissenschaftler nutzen ihre Bibliotheken. Zwei Millionen Studierende an deutschen Hochschulen brauchen sie täglich, um effizient lernen und arbeiten zu können. Ohne sie sind Forschung und Lehre nicht denkbar. Das Internet hat daran nichts geändert – außer dass der Physiker dank der Bibliothekslizenz die Versuchsergebnisse seiner Kollegen weltweit schneller auf dem Bildschirm hat.“ Das ist selbstverständlich das schlechteste aller möglichen Beispiele. Gerade die Physik gilt als die Wissenschaft, die dank dem Internet eine eigene Publikationskultur ausgeprägt hat, welche auf Preprints basiert. Da kommt jede und jeder einfach so ran: hier, in arxiv.org. Oder anders: bevor ein Physiker wegen einer Bibliothekslizenz ein Arbeitsergebnis auf dem Bildschirm hat, ist dieses schon längst veraltet.
- Die Idee, dass es etwas Besonderes wäre, dass Bibliotheken sich spezialisieren, kann ich nicht nachvollziehen. Das machen doch alle Einrichtung nach einer bestimmten Zeit. Insbesondere auf dem freien Markt ist das oft eine Voraussetzung für das Überleben kleinerer Firmen.
- „Hippe Japanerinnen können den neuen Bestseller von Kultautor Haruki Murakami längst auf dem Handy durchklicken.“ Dieses Bild bringt die Autorin, um anschließend zu sagen, dass Bibliotheken aber auch Bücher haben. Was immer dieses Bild genau sagen soll, so wie es eingesetzt wird, ist es fast schon rassistisch. Japanerinnen und Japaner lesen auf ihren Handys Bücher und Zeitungen, weil dies aufgrund technischer Entwicklungen möglich ist. Gerade beim Aufbau des Handynetzes wurden in Japan einige andere Grundentscheidungen getroffen wurden, als in Deutschland, zum Beispiel die, dass Internet sehr schnell in den Handybetrieb zu integrieren. Deshalb sehen die Handys in Japan auch anders aus. Dies ist ein schönes Beispiel für die Bedeutung von Medienpolitik und Mediengeschichte. Allerdings hat das überhaupt nichts damit zu tun, dass die Menschen Japanerinnen sind. Die Japaner, die ich hier in Berlin kenne, nutzen deshalb elektronische Geräte auch nicht anders, als die Deutschen, Polen oder Kurden in Berlin. Und genügend nicht-japanische Menschen, die in Japan leben, benutzen halt das Handy zum Lesen von Büchern. Das hat nicht damit zu tun, wie die Bibliotheken ausgestattet sind. Auch in Japan gibt es funktionierende Verlage und Bibliotheken. Das verwendete Bild ist einfach Grundfalsch.
- Da der Autorin gerade Google als Feindbild gilt, ist es noch nachvollziehbar, dass dieser Markennamen im Text auftaucht. Aber wozu müssen im Text weitere Markennamen stehen? Der Text soll eine „Strategiepapier“ sein, keine journalistische Reportage (wenn ich das richtig verstanden habe). Da sollten Markennamen einfach nicht drin vorkommen, weil die Argumentation sich eigentlich auf Strukturen bezieht, nicht auf einzelne Produkte.
Fußnoten:
[1] Ich hatte überlegt, ob der Duktus eventuell durch die „bekannte Publizistin Anne Buhrfeind“ (Berufsverband) alleine zu verantworten ist, die als leitende Redakteurin in einem evangelischen Magazin arbeitet. Vielleicht redet man in der Kirche so? Ist das der Sprachstil, der heute im Gottesdienst einer evangelischen Gemeinde angeschlagen wird? Nun bin ich Atheist und kenne mich damit nicht wirklich aus. Aber meine Erfahrungen aus dem Studium (immerhin zwei Semester feministische Theologie), dem Religionsunterricht (bei uns freiwillig, weil es kein Philosophie- oder Ethikunterricht gab) und persönlichen Kontakten sind andere. Wer redet den so,wie dieser Text geschrieben ist?
[2] Was Bourdieu für das französische Bildungssystem konstatierte, stimmt auch für Bibliotheken in Deutschland: Das Bildungssystem reproduziert und verstärkt soziale Ungleichheiten, indem es sie ignoriert. Oder, in anderer Terminolgie: eine Einrichtung, die so tut, als wären alle Menschen gleich, obwohl sie es in der Gesellschaft nicht sind, perpetuiert die vorhandenen sozialen Ungleichheiten. Funktionieren Bibliotheken so? Selbstverständlich nicht, überall wird versucht, Menschen besonders zu helfen, die es nötiger haben, als andere. Aber wenn man die „21 guten Gründe“ ließt, ist davon nichts zu finden. Dort geht es fast nur um „Bildungsbürger“.
[3] Ein weiterer Fakt übrigens, der mich am Sinn eines Strategiepapiers zweifeln lässt, und zwar auch schon bei Bibliothek 2007: bei allen für Bibliotheken verantwortlichen Politikerinnen und Politikern habe ich bisher immer ein sehr großes Verständnis für die Situation von Bibliotheken und ein großes Wissen über die reale Situation festgestellt, oft auch Zukunftskonzepte, die weitsichtiger waren, als die, welche in bibliothekarischen Debatten immer wieder formuliert werden. Diese Menschen braucht man nicht davon überzeugen, dass Bibliotheken wichtig sind. Etwas anderes sind Politikerinnen und Politiker, die praktisch die Interessen der Verlage vertreten. Aber deshalb vertreten sie ja auch die Interessen der Verlage. Doch auch die wissen, dass die in den „21 guten Gründen“ geschilderten Bibliotheken Idealvorstellungen sind.
[4] Es ist eher besser geworden, zumindest für einige.
[5] Wer jetzt „Innovation“ sagt, kommt auch nicht weiter. Innovation um der Innovation willen bedeutet zumeist auch nur mehr Stress. Das Deutsche Bibliotheksinstitut wurde beispielsweise auch deshalb geschätzt, weil es vollkommen uninnovative Zeitschriften für Spezialbibliotheken herausgab. Soll das auch eine Aufgabe der Bibliotheksentwicklungsagentur sein? Und wieso soll eine Agentur eigentlich besser funktionieren, als das abgewickelte Bibliotheksinstitut oder die mögliche innovative Arbeit in den einzelnen Bibliotheken?