Wünsch dir was

Der Berufsverband Information Bibliothek hat, im Anschluss an das eigentlich gescheiterte Projekt Bibliothek 2007, eine Arbeitsgruppe gebildet, die eine Fortführung dieses Projektes organisieren wollte. Vorgelegt hat diese Arbeitsgruppe vor einiger Zeit das Strategiepapier „21 gute Gründe für gute Bibliotheken”. Es gab zu diesem nicht nur eine Veranstaltung auf dem Bibliothekstag, sondern auch ein Blog, in dem eigentlich eine Diskussion über das Papier stattfinden sollte. Leider scheint dieses Blog nahezu vollkommen untergegangen zu sein, bis dankeswerterweise Patrick Danowski darauf hinwies. Er selber äußerte in fünf Teilen Kritik an dem Papier (1, 2, 3, 4, 5), tene hat in ihrem Blog das Papier daraufhin in drei Teilen (1, 2, 3) kritisiert, Prof. Umstätter meldete sich in der inetbib-Liste zu Wort. Eine wirkliche Diskussion ist dies noch nicht, aber immerhin ein Anfang. Auch ich möchte einen Beitrag zu diesem Text beisteuern, immerhin soll das Strategiepapier nach Vorstellung der Arbeitsgruppe in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle im deutschen Bibliothekswesen spielen. Mir ist zwar nicht klar, wie man sich dies nach dem eigentlich folgenlosen Auslaufen der Vorgängerprojekts vorstellen soll. Aber immerhin besteht der Anspruch.
Im Gegensatz zu den anderen Kritiken, die sich sehr am Text selber orientierten, würde ich gerne das Papier allgemeiner kritisieren, wobei diese Kritik nicht als Verriss gelesen werden sollte, sondern an etwas, dass man in anderen Kreisen als „solidarische Kritik“ verstehen würde.

Wozu?
Grundsätzlich muss ich eingestehen, dass ich nicht hinter das Konzept des Textes gestiegen bin. Ich meine: hinter die Idee eines Strategiepapieres. Ein Strategiepapier, wie ich es kenne, schreibt man im Rahmen eines Selbstfindungsprozesses politischer Initiativen. Dafür treffen sich die Mitglieder der Initiative, man tauscht sich darüber aus, was man bisher gemacht hat, was die persönlichen Ziele sind, was man sich in nächster Zeit erwartet. Nach einigen heftigen Streitigkeiten schreibt dann eine Gruppe alle akzeptierten Ziele zusammen, die Anwesenden nicken es ab. Und danach legt man das Papier zu den Akten und macht mit der politischen Arbeit weiter. So ungefähr kenne ich es: ein Papier, dass als Ergebnis am Ende einer, zum Teil drastischen, gemeinsamen Auseinandersetzung einer Organisation steht und auf das sich anschließend kaum jemand mehr bezieht, weil das wichtige am Erstellen des Papiers der Rekonstitutionsprozess im Laufe der Debatten ist, nicht der Text, der am Ende geschrieben wird. Die Wirkung eines solchen Strategiepapiers ist immer eine interne.
Aber darum geht es bei „21 gute Gründe für gute Bibliotheken“ offenbar nicht. Das Papier ist kein Ergebnis eines Diskussionsprozesses des Bibliothekswesens. Und offensichtlich ist das Bibliothekswesen auch nicht das anvisierte Gesprächsumfeld, in das hinein das Papier wirken soll. Das war bei Bibliothek 2007 schon ähnlich unverständlich, aber immerhin gab es bei dem damaligen Papier noch etwas zu diskutieren. Bei „21 gute Gründe“ ist es mir vollkommen unnachvollziehbar, an wen sich das Papier richtet, was es bewirken soll, was es mit dem Bibliothekswesen zu tun hat und was eigentlich seine strategische Aufgabe sein soll. Es ist einfach da und macht einige Aussagen. Aber es hat noch nicht mal mich, der eigentlich im Zweifel dann doch immer für die Bibliothek ist, überzeugt – weil: ich weiß gar nicht, wovon es mich überzeugen soll.
Wenn ich es richtig aus Bibliothek 2007 abgeleitet habe, soll ein solches Strategiepapier dazu dienen, Bibliotheken in politischen Debatten zu verankern. Was auch immer das wieder heißen soll. Sollen Politikerinnen und Politiker das Papier lesen, sich an den Kopf fassen, „ja, stimmt, wie konnte ich das nur vergessen?“ murmeln und dann sofort für eine Umverteilung des Etats sorgen? Vielleicht haben andere Menschen ja andere Erfahrungen, aber ich habe nun schon einige Jahre auf unterschiedlichen Ebenen und Themenfeldern Politik gemacht, hatte dabei unterschiedlich engen Kontakte zu Politikerinnen und Politiker der drei politischen Ebenen (Kommune, Land, Bundesrepublik) in allen Parteien zwischen CDU und Linkspartei und fast allen großen gesellschaftlichen Institutionen von Gewerkschaft bis Bund der Arbeitgeber. Diese Menschen haben viele Fehler, alle. Aber – solange sie nicht gerade vollkommen neu im politischen Geschäft sind – sind diese Menschen alle sehr rational denkende und handelnde Wesen, die bekanntlich einen Bildungshintergrund haben, der weit über dem gesellschaftlich durchschnittlichen liegt. Sie wissen, was Werbetexte sind, sie lassen sie auch regelmäßig aus der Post entfernen. Sie wollen, um Entscheidungen zu treffen, klare Aussagen, nachvollziehbare Zusammenhänge und ein erkennbares Gesamtkonzept. Und dies bitte kurz und knapp. Eine Meinung haben sie schon alleine, dafür sind sie ja in der Politik. Alles andere ist Parteitagslyrik, die man bei offiziellen Veranstaltungen über sich ergehen lässt, aber ansonsten ignoriert. Anders würde das politische Geschäft nicht funktionieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Effekt bei solchen Menschen der Text mit den „21 guten Gründen“ haben soll. Ehrlich gesagt wäre ich überrascht, wenn er in seinem jetzigen Umfang und seiner Aufmachung überhaupt von Sekretariat weiter gereicht würde. Aber abgesehen davon fehlt dem Text einfach die inhaltliche Substanz. Die behaupteten Effekte, die Bibliotheken angeblich haben, sind nicht untermauert (Merksatz: „Don’t argue, proof it.“), die Aussagen, die getroffen werden sollen, muss man zumeist raten, zumindest sind sie nicht klar erkenntlich und viel schlimmer: auch wenn man den Text mehrfach gelesen hat, wird nicht klar, was von den Lesenden nun erwartet wird. Bei den meisten Textabschnitten ist einfach nicht klar, was nun das jeweilige Argument sein soll. Das sollte eigentlich in jedem Text klar werden, der politische Relevanz erlangen will. Notwendig ist eher folgende Struktur: Aussage – Beweis – Handlungsmöglichkeiten. Ob die Aussage dann akzeptiert wird, der Beweis anerkannt oder die Handlung vollzogen, ist dann eine andere Sache.
Und nochmal aus meiner Erfahrung: ausnahmslos scheinen mir (verantwortliche) Politikerinnen und Politiker gestanden Menschen zu sein, zumeist mit Hochschulabschluss. Hingegen ist der Text, sowohl in seinem Aufbau, als auch nach seiner Diktion … tja, albern. Ein wenig erinnert er an Kinderbücher, über weite Strecken auch an missglückte Versuche von Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern, Jugendliche über eine angebliche Jugendsprache „zu erreichen“, anstatt klar zu sagen worum es geht. Polikerinnen und Politiker sagen das nicht so direkt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich vom belehrend-kumpelhaften Duktus des Textes genauso verarscht vorkommen werden, wie ich. Garantieren tue ich dies zumindest für alle unter 30. [1]
Es ist mir also zusammengefasst nicht klar, wozu es überhaupt ein Strategiepapier geben soll und warum dann ein solches.

Wo ist das?
Abgesehen davon scheint der Text von einer kontinuierlichen Überschätzung der realen Leistungsfähigkeiten der (durchschnittlichen) Bibliotheken in Deutschland gezeichnet zu sein. Das hat auch damit zu tun, dass bestimmte Aufgaben von Bibliotheken beständig betont werden (Medien zu Verfügung stellen, Informationen beschaffen) und dafür andere Aufgaben einfach nicht vorkommen. Genau einmal wird erwähnt, dass Bibliotheken (angeblich) die drohende Spaltung der Gesellschaft verhindern würden, was so simpel gedacht überhaupt nicht stimmt. [2] Einmal steht im Text etwas von Meinungsvielfalt, die durch Bibliotheken ermöglicht würde; einmal etwas von großer Medienkompetenz, die in Bibliotheken verbreitet sei; einmal wird die kulturelle Funktion von Archivbibliotheken angedeutet. Die Bibliothek als soziale und gesellschaftliche Einrichtung kommt im ganzen Text nicht vor. Das ist selbstverständlich eine politisch bedeutsame Aussage.
Aber was an bibliothekarischer Arbeit geschildert wird, scheint aus einer anderen Dimension zu stammen, in der Bibliotheken politisch, vom Etat und der Zukunftsperspektive her längst abgesichert sind: alles klappt super. Ständig will man die Autorin an die Hand nehmen und durch ein paar zufällig ausgesuchte durchschnittliche Bibliotheken führen und sagen: schauen sie, Bibliotheken geht es schlecht, das Personal ist überarbeiten, das meiste ist Improvisation und jede Bibliothek hat unlösbare Aufgaben im Keller, die sie seit Jahren vor sich herschiebt. Die meisten Medienkompetenzen mussten sich die Bibliothekarinnen und Bibliothekare selber aneignen. Warum sollen die besser sein, als die der Gesamtbevölkerung? Fast alles ist veraltet, fast alles ist zu knapp. Das ist die Realität. Let’s face it.
Vielleicht soll diese beständig positive Darstellung der Situation eine Utopie sein, ein Bild, wie Bibliotheken funktionieren könnten. Es scheint öfter, als würden hier bibliothekarische Träume von funktionierenden Bibliotheken geschildert und nicht die Realität. Nichts gegen Utopien. Aber: wer soll damit überzeugt werden? Keine Politikerinnen und Politiker, denn diese wissen zumeist sehr genau, wenn sie dafür verantwortlich sind, wie die Situation „ihrer Bibliotheken“ ist. [3]
Neben dieser beständigen Überschätzung von Bibliotheken scheint der Text durchzogen von einer teilweise schon beleidigenden Unterschätzung der Nutzerinnen und Nutzer. Beständig scheint der eigentlich seit einigen Jahrzehnten obsolete Gestus der Volksbildung durch, wo der wissende Bibliothekar der dummen Bevölkerung beibringen muss, wie man mit Büchern umgeht, wie man Informationen findet etc. Insbesondere die beständige Angst vor der Informationsflut, die im Text aufgerufen wird, stellt die Nutzerinnen und Nutzer als bedrängte Wesen dar, denen geholfen werden muss. Das unterschätzt einfach, dass auch schon bisher der Großteil der Menschen relativ funktionale Strategien entwickelt hat, mit diesem Aufkommen einer beständig steigenden Zahl von Informationen umzugehen.
Dazu kommt, dass die Vorstellung davon, wie und wieso Menschen eigentlichen Bibliotheken nutzen, ebenso an der Realität vorbei zu gehen scheinen. Da tauchen im Text beständig Menschen auf, die klare Informationsbedürfnisse haben, die für klare Lernaufgaben in die Bibliothek kommen, die genau wissen, was sie eigentlich wollen. Rekreation, browsen, rumhängen, Zeit rumbringen und Ähnliches wird nicht einmal erwähnt, außer wenn es irgendwas mit Lernen zu tun hat. Und wieder möchte man die Autorin an die Hand nehmen und für einige Tage in einige durchschnittliche Bibliotheken setzen, um sich einmal anzuschauen, was die Menschen da eigentlich tun. Sicher wird sie ein paar Menschen mit klaren Informationsbedürfnissen sehen, aber nur sehr wenige.
Absurd wird es, wenn die Autorin versucht, die Bedeutung von Bibliotheken für den Alltag anhand von Beispielen zu untermauern. Sie führt einmal ein deutsch-türkisches Mädchen an, dass in der Bibliothek deutsch und türkisch lernen würde und eine Vater hätte, welcher sich vor seiner Einbürgerung in der Bibliothek in deutsch und türkisch über die Bundesrepublik informiert hätte. Das ist dann doch eher ein Mythos. Eine deutsche Bibliothek, die tatsächlich einen fremdsprachigen Bestand hat, aus dem man relevante Informationen über das politische System Deutschlands ziehen könnte, noch dazu einen aktuellen, ist eine Rarität. Es gibt sie, aber wie viele werden das sein? Und wie viele werden dass sein, wenn man nicht türkische oder englische Texte sucht? Das Bild ist als Utopie brauchbar, aber nicht als Beschreibung der Realität des deutschen Bibliothekswesens. Und die Idee, dass Bibliotheken von Menschen verwendet werden, um politische Informationen zu erhalten, geistert zwar schon länger in der bibliothekarischen Debatte herum, aber jeder Versuch, dies beispielsweise im englisch-sprachigen Bibliothekswesen empirisch zu bestätigen, geht beständig schief. Die Menschen befragen immer zuerst Menschen, denen sie vertrauen, dann sehr viele andere Stellen und Medien und erst am Ende die Bibliothek. Egal, wie sehr diese in der Community verankert ist und egal, wie groß der Respekt vor der Arbeit in Bibliotheken bei den Menschen ist.
Das Bild vom deutsch-türkischen Vater ist also eines, dass mit der Realität in deutschen Bibliotheken nichts zu tun hat. Vielleicht gibt es ihn irgendwo, aber er wird einer von hundertausend sein.
Die Autorin zählt aber auch noch einige Menschen auf, welche die Bibliothek für ihre Arbeit brauchen: einen Übersetzer, einen Redenschreiber für ein Ministerium und einen Althistoriker. Okay. Nichts gegen Übersetzer und Althistoriker, beide tun eine wichtige Arbeit. (Redenschreiber, naja.) Das sind die drei Berufe, die angeführt werden, um zu zeigen, dass Bibliotheken für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Nur wieviele Prozent der Bevölkerung sind das wohl? Ich schätze mal, dass das noch nicht einmal ein Prozent sein wird. Was ist mit den anderen Menschen und Berufen? Das Übersetzer und Althistoristoriker Bibliotheken brauchen, wird niemand bestreiten. Aber so ausgewählt, wie die Beispiele sind, können sie schnell nach hinten losgehen: über 99% der Bevölkerung scheinen dem Papier nach keine Bibliothek zu benötigen.

Bäh, Computer
Die Autorin mag das Internet nicht. Das wird im Text offensichtlich. Sie scheint zwar nur Google zu kennen, aber das reicht offenbar. Wirklich absonderlich wird das, wenn sie Lesen mit „Bücher lieben“ in Beziehung bringt. Irgendwie scheint ihr entgangen zu sein, dass das Internet an sich eine textlastige Angelegenheit ist und gerade wegen dessen Verbreitung von einer Wiederzunahme der Bedeutung des Lesens ausgegangen wird. Allerdings scheint sie mit dieser Haltung: ja, das Internet gibt es, aber wir haben Bücher und wissen auch ansonsten besser über Informationen Bescheid, als der Rest der Welt, tatsächlich einmal eine Meinung zu vertreten, die mit der realen Meinung vielen Bibliothekarinnen und Bibliothekare übereinstimmt. Und selbstverständlich ist eine solche Meinung für eine und einen persönlich möglich. Aber wozu das in einen offiziellen Text schreiben, der – wie auch immer – die Zukunft der Bibliotheken bestimmen soll?
Vor allem geht dies vollkommen an der realen Bedeutung des Internets in der Gesellschaft vorbei. Es ist doch offensichtlich, dass das Internet nicht der Feind ist, sondern von den meisten Menschen im größeren Medienverbund genutzt wird. Und zwar nicht alleine als Informationsliefermaschine, sondern – wie andere Medien auch – ebenso als Teil der Freizeit und der Freitzeitgestaltung. Das Internet ist integraler Bestandteil des Medienalltags vieler Menschen geworden, ohne dass davon die Welt schlechter geworden wäre. [4] Ebenso Spielkonsolen. Warum muss dann in einem Text, der 2008 geschrieben wurde, eine beständige Grenze zwischen der Bibliothek / den Büchern und dem Internet gezogen werden?
Die Frage kann man schon zu Beginn des Textes stellen, wo wieder einmal gesagt wird, dass Bibliotheken trotz Internet notwendig seien. Wann hat man den bitteschön etwas anderes gehört? Irgendwie scheint sich hier eine Bedrohung durch das Internet in den Köpfen von Bibliothekarinnen, Bibliothekaren und Autorinnen, die Bibliotheken unterstützen, festgesetzt zu haben, die nicht mehr existiert. Falls tatsächlich einmal irgendein Politiker oder eine Politikerin ernsthaft behauptetet hat, dass Bibliothek durch das Internet abgelöst würden, ist das schon so lange her, dass man es einfach vergessen sollte. Die Probleme sind andere.

Wunschzettel
Beendet wird der Text mit dem Abschnitt „Was Bibliotheken brauchen“. Dieser Abschnitt ist nicht viel mehr, als eine Wunschliste, die größtenteils aus Bibliothek 2007 abgeschrieben wurde. Wozu? Keine Ahnung. Auffällig ist erstmal, dass in der Liste selber mehrere Punkte enthalten sind, die schon, als sie in Bibliothek 2007 standen, diskutiert hätten werden müssen. Und zweitens fällt auf, dass diese Wunschliste mit den Text zuvor nichts zu tun hat. Da erscheinen auf einmal solche Aussagen, wie, dass Bibliotheken nah sein müssen, Vernetzung und Standards brauchen, ohne dass das irgendwie begründet wurde. Der Text und die Wunschliste: sie haben einfach überhaupt nichts mit einander zu tun, auch wenn es den Anschein hat, weil sie in einem Dokument stehen. Ehrlicher wäre es, wenn der letzte Abschnitt unter der Überschrift „Wir wünschen uns“ oder – da es letztlich eine Fortschreibung von Bibliothek 2007 ist – „Wir und die Bertelsmann-Stiftung wünschen uns“ separat veröffentlicht würden. Da wüsste man zumindest, woran man ist.
Aber auch so sollte die Liste besser noch einmal im Bibliothekswesen diskutiert werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gegeben wird. So wird beispielsweise einfach mal ein Anbindung an – angeblich etablierte – internationale Standards, die Einrichtung einer Bibliotheksentwicklungsagentur, die Vernetzung mit anderen Einrichtungen oder die Ausweitung der Öffnungszeiten von Bibliotheken auf das Wochenende gefordert; obwohl es zu all diesen Punkten auch gewichtige Gegenargumente geben würde, gäbe es den eine Debatte. Standards bringen nicht halb so viel, wie gerne vermutet wird, und produzieren stattdessen viel Sonderarbeit; eine Bibliotheksentwicklungsagentur ist solange sinnlos, solange nicht gesagt wird, was die eigentlich tun soll [5]; Wochenendöffnungszeiten heißt, dass die auch jemand abdecken muss und da gibt es aus Sicht der Beschäftigten auch gute Gründe gegen. Für mich scheint diese Liste überhaupt nicht publikationswürdig.

Kleinigkeiten
Daneben gibt es noch kleinere Sachen und Formulierungen, die ich kritisch sehe:

  • blame parents: In Deutschland scheint es üblich, dass niemals die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen Schuld sind, wenn mit Kindern und Jugendlichen etwas nicht stimmt, sondern immer die Eltern. Während in anderen Staaten Schulen und Bibliotheken den Fehler auch bei sich suchen, wenn die jeweiligen Bildungsziele nicht erreicht werden und daraus auch (immer bestreitbare) Konsequenzen ziehen, springt der Text einfach auf den deutschen Diskurs auf. Wozu? Der Großteil der Eltern ist von den zahlreichen Vorwürfen und Ansprüchen schon überfordert und versucht trotzdem das Bestmögliche. Da ist ein Satz, wie der folgende, vollkommen unnötig und inhaltlich zudem falsch: „Viele Kinder lernen das [Lesen] zu Hause nicht mehr, weil da keiner ist, der mit ihnen Bilderbücher blättert oder ihnen vorliest – Vor-lesen auch im Sinne von: Vorbild sein. Viele Kinder sehen zu Hause niemanden mehr beim Lesen, niemanden, den man jetzt nicht stören soll, weil er liest, niemanden, der später begeistert erzählt, was er wieder für abenteuerliche Dinge aus einem Buch oder einer Zeitung erfahren hat.“
  • Die Autorin will darstellen, dass Bibliotheken für die wissenschaftliche Arbeit notwendig seien und schreibt deshalb folgenden Abschnitt: „90 Prozent aller Studierenden und Wissenschaftler nutzen ihre Bibliotheken. Zwei Millionen Studierende an deutschen Hochschulen brauchen sie täglich, um effizient lernen und arbeiten zu können. Ohne sie sind Forschung und Lehre nicht denkbar. Das Internet hat daran nichts geändert – außer dass der Physiker dank der Bibliothekslizenz die Versuchsergebnisse seiner Kollegen weltweit schneller auf dem Bildschirm hat.“ Das ist selbstverständlich das schlechteste aller möglichen Beispiele. Gerade die Physik gilt als die Wissenschaft, die dank dem Internet eine eigene Publikationskultur ausgeprägt hat, welche auf Preprints basiert. Da kommt jede und jeder einfach so ran: hier, in arxiv.org. Oder anders: bevor ein Physiker wegen einer Bibliothekslizenz ein Arbeitsergebnis auf dem Bildschirm hat, ist dieses schon längst veraltet.
  • Die Idee, dass es etwas Besonderes wäre, dass Bibliotheken sich spezialisieren, kann ich nicht nachvollziehen. Das machen doch alle Einrichtung nach einer bestimmten Zeit. Insbesondere auf dem freien Markt ist das oft eine Voraussetzung für das Überleben kleinerer Firmen.
  • „Hippe Japanerinnen können den neuen Bestseller von Kultautor Haruki Murakami längst auf dem Handy durchklicken.“ Dieses Bild bringt die Autorin, um anschließend zu sagen, dass Bibliotheken aber auch Bücher haben. Was immer dieses Bild genau sagen soll, so wie es eingesetzt wird, ist es fast schon rassistisch. Japanerinnen und Japaner lesen auf ihren Handys Bücher und Zeitungen, weil dies aufgrund technischer Entwicklungen möglich ist. Gerade beim Aufbau des Handynetzes wurden in Japan einige andere Grundentscheidungen getroffen wurden, als in Deutschland, zum Beispiel die, dass Internet sehr schnell in den Handybetrieb zu integrieren. Deshalb sehen die Handys in Japan auch anders aus. Dies ist ein schönes Beispiel für die Bedeutung von Medienpolitik und Mediengeschichte. Allerdings hat das überhaupt nichts damit zu tun, dass die Menschen Japanerinnen sind. Die Japaner, die ich hier in Berlin kenne, nutzen deshalb elektronische Geräte auch nicht anders, als die Deutschen, Polen oder Kurden in Berlin. Und genügend nicht-japanische Menschen, die in Japan leben, benutzen halt das Handy zum Lesen von Büchern. Das hat nicht damit zu tun, wie die Bibliotheken ausgestattet sind. Auch in Japan gibt es funktionierende Verlage und Bibliotheken. Das verwendete Bild ist einfach Grundfalsch.
  • Da der Autorin gerade Google als Feindbild gilt, ist es noch nachvollziehbar, dass dieser Markennamen im Text auftaucht. Aber wozu müssen im Text weitere Markennamen stehen? Der Text soll eine „Strategiepapier“ sein, keine journalistische Reportage (wenn ich das richtig verstanden habe). Da sollten Markennamen einfach nicht drin vorkommen, weil die Argumentation sich eigentlich auf Strukturen bezieht, nicht auf einzelne Produkte.

Fußnoten:
[1] Ich hatte überlegt, ob der Duktus eventuell durch die „bekannte Publizistin Anne Buhrfeind“ (Berufsverband) alleine zu verantworten ist, die als leitende Redakteurin in einem evangelischen Magazin arbeitet. Vielleicht redet man in der Kirche so? Ist das der Sprachstil, der heute im Gottesdienst einer evangelischen Gemeinde angeschlagen wird? Nun bin ich Atheist und kenne mich damit nicht wirklich aus. Aber meine Erfahrungen aus dem Studium (immerhin zwei Semester feministische Theologie), dem Religionsunterricht (bei uns freiwillig, weil es kein Philosophie- oder Ethikunterricht gab) und persönlichen Kontakten sind andere. Wer redet den so,wie dieser Text geschrieben ist?
[2] Was Bourdieu für das französische Bildungssystem konstatierte, stimmt auch für Bibliotheken in Deutschland: Das Bildungssystem reproduziert und verstärkt soziale Ungleichheiten, indem es sie ignoriert. Oder, in anderer Terminolgie: eine Einrichtung, die so tut, als wären alle Menschen gleich, obwohl sie es in der Gesellschaft nicht sind, perpetuiert die vorhandenen sozialen Ungleichheiten. Funktionieren Bibliotheken so? Selbstverständlich nicht, überall wird versucht, Menschen besonders zu helfen, die es nötiger haben, als andere. Aber wenn man die „21 guten Gründe“ ließt, ist davon nichts zu finden. Dort geht es fast nur um „Bildungsbürger“.
[3] Ein weiterer Fakt übrigens, der mich am Sinn eines Strategiepapiers zweifeln lässt, und zwar auch schon bei Bibliothek 2007: bei allen für Bibliotheken verantwortlichen Politikerinnen und Politikern habe ich bisher immer ein sehr großes Verständnis für die Situation von Bibliotheken und ein großes Wissen über die reale Situation festgestellt, oft auch Zukunftskonzepte, die weitsichtiger waren, als die, welche in bibliothekarischen Debatten immer wieder formuliert werden. Diese Menschen braucht man nicht davon überzeugen, dass Bibliotheken wichtig sind. Etwas anderes sind Politikerinnen und Politiker, die praktisch die Interessen der Verlage vertreten. Aber deshalb vertreten sie ja auch die Interessen der Verlage. Doch auch die wissen, dass die in den „21 guten Gründen“ geschilderten Bibliotheken Idealvorstellungen sind.
[4] Es ist eher besser geworden, zumindest für einige.
[5] Wer jetzt „Innovation“ sagt, kommt auch nicht weiter. Innovation um der Innovation willen bedeutet zumeist auch nur mehr Stress. Das Deutsche Bibliotheksinstitut wurde beispielsweise auch deshalb geschätzt, weil es vollkommen uninnovative Zeitschriften für Spezialbibliotheken herausgab. Soll das auch eine Aufgabe der Bibliotheksentwicklungsagentur sein? Und wieso soll eine Agentur eigentlich besser funktionieren, als das abgewickelte Bibliotheksinstitut oder die mögliche innovative Arbeit in den einzelnen Bibliotheken?

Ungewollte Effekte weitflächiger Evaluationen

[Gesellschaftliche] Technik, im umfassenden Sinne begriffen, ist funktionierende Simplifikation, ist eine Form der Reduktion von Komplexität, die sich konstruieren und realisieren läßt, obwohl man die Welt und die Gesellschaft nicht kennt, in der dies geschieht: ausprobiert an sich selber. Die Emanzipation der Individuen – wohlgemerkt: auch der unvernünftigen Individuen – ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt dieser Technisierung.
Nur ein so weit gefaßter Technikbegriff kann den Anspruch einlösen, zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft beizutragen. Er mach das Beiseiteschieben von Hinsichten und Rücksichten verständlich. Er bezeichnet das Absehen von individualpsychologischen und von ökologischen Auswirkungen gleichermaßen. Er klärt die technische Seite der Wissenschaft, und zwar ganz unabhängig von den Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf Produktionsprozesse. Er macht verständlich, daß die moderne Gesellschaft zur humanistischen und zur ökologischen Selbstkritik neigt; aber auch: daß sie in Reaktion darauf wiederum nur Technik einsetzen kann, indem sie zum Beispiel Humandefizite und ökologische Probleme als Fianzierungsprobleme auffaßt.
[Luhmann, Niklas / Beobachtungen der Moderne. – 2. Aufl. – Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 [1992], S.21f.]

Am 24. und 25. Juni 2008 fand am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die eher wenig besucht Konferenz „Changing Educational Accountablility in Europe“ statt. Während im deutschen Bildungssystem, hauptsächlich im Bezug auf Schulen, Diskussionen darüber geführt werden, ob allgemeine Standards zu einer Erhöhung der Schulqualität führen können, ob mehr nationale und internationale Vergleichsstudien zu einer Verbesserung der Bildungsergebnisse führen werden und ob die Orientierung am betriebswirtschaftlichen Paradigma der informierten Kundin bzw. des informierten Kunden und einem verstärkten Wettbewerb zwischen autonomen Schulen positive Effekte für Schülerinnen, Schüler und deren Familien haben könnten, ist eine solche Test- und Wettbewerbssituation in anderen Staaten die allgemeine Praxis im Schulsystem. Dabei stechen die USA und England (nicht Schottland, Wales und Nordirland) hervor, in denen die bildungspolitische Steuerung der Schulen hauptsächlich über nationale, regionale und kommunale Standards, Test und Wettbewerbssituationen erfolgt. Erklärtes Ziel der deutschen Bildungspolitik ist es, sich dieses Praxis anzunähern. Der sogenannte Konstanzer Beschluss von 1997, in welchem die Kultusministerkonferenz beschloss, dass Deutschland (wieder) an internationalen vergleichenden Bildungsstudien teilnehmen und die Ergebnisse dieser Studien zur Weiterentwicklung des Bildungssystems nutzen soll, war der offizielle Beginn dieses bildungspolitischen Paradigmenwechsels. Die IGLU- und die PISA-Studien waren seine bisher bekanntesten Ergebnisse.

Inkonsistente Studienergebnisse
Die Grundfrage der Konferenz war, so die Präsidentin der WZB Jutta Allmendinger, herauszufinden, was das Messen, Testen und Standardisieren im Hinblick auf Schul- und Unterrichtsqualität bringt. Insbesondere interessierten die Veranstaltenden dabei ungewollte Effekte dieser Steuerungsmodelle. Dabei steht man, wenn man einmal versucht, über eine einzelne Studien hinauszuschauen, beständig vor einem weiteren Rätsel: die Ergebnisse verschiedener Studien lassen sich kaum konsistent miteinander verbinden. Als Beispiel zeigte Prof. Allmendinger, dass es keinen statistischen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen von Staaten in den PISA-Studien und der Verteilung und Anzahl und vorgeblichen Qualität der Schulabschlüsse in diesen Staaten gibt. Einen solchen Zusammenhang gibt es auch nicht, wenn man die einzelnen deutschen Bundesländern miteinander vergleicht. Wie im Laufe der Konferenz ersichtlich wurde, gilt dies für verschiedene Studien und Kriterien, die zur Bestimmung der Qualität von Bildungssystemen herangezogen werden.

name and blame
Gwyn Bevan, Professor an der London School of Economics and Political Science, stellte die Praxis des name and blame im englischen Gesundheitssektor vor. Der Gesundheitssektor ist dabei als Vorreiter einer Entwicklung zu sehen, welche mit einiger Verzögerung auch im englischen Bildungssektor zur Anwendung kam. Gesundheitseinrichtungen – Krankenhäuser, Kurhäuser, einzelne Praxen – werden als relativ autonome Akteure auf einem Pseudomarkt verstanden. Diese Institutionen werden so wenig wie möglich direkt bürokratisch kontrolliert und gesteuert, sondern – soweit möglich – als Black-Box verstanden, die einen Input erhalten und einen messbareren Output erzielen sollen. Wie sie den Weg von Input zu Output organisieren, bliebt dabei idealtypisch ihnen selbst überlassen. Die Eingriffsmöglichkeiten des Staates soll sich – neben der Gesetzgebung – auf Hilfe im unabwendbaren Notfall und die finanzielle Förderung guter Praxis beschränken. Gemessen wird diese „gute Praxis“ mithilfe von Standards, d.h. mit mehr oder weniger komplexen Fragesätzen, deren Antworten in möglichst einfache Zahlen übersetzt werden. Im Allgemeinen werden diese Ergebnisse in einfach Punktesystemen (z.B. null bis vier Sterne) und Ranglisten ausgedrückt und in dieser Form auch intensiv medial verbreitet. Insbesondere die Einrichtungen, die bei solchen Tests schlecht abschneiden, werden öffentlich von der Regierung und der Presse benannt und als schlechte Beispiele dargestellt. Dies ist zwar unter der New Labour Regierung seit 1997 verstärkt worden, wurde aber ähnlich schon unter der Regierung der Conservative Party praktiziert.
Erwartet wurde nun, dass sich Institutionen anstrengen würden, möglichst hohe Punktzahlen (Sternchen) zu erhalten, dass sie dies durch eine allgemeine Steigerung der Qualität tun würden und dass gleichzeitig die Grundsätze des kapitalistischen Wettbewerbs dazu führen würden, dass die durch die Ranglisten informierten Bürgerinnen und Bürger das jeweils beste Produkt wählen, bzw. die jeweils beste Einrichtung besuchen würden und somit diejenigen Einrichtungen, die schlechte Ergebnisse erreichen, entweder ihre Qualität verbessern oder aber untergehen würden. [1]
Das trat allerdings, so lässt sich der Vortrag von Bevan zusammenfassen, nicht ein. Egal, wie gut oder schlecht eine Praxis oder ein Krankenhaus abschnitt: es gingen weder relevant mehr noch relevant weniger Menschen hin. Dies ist bei Schulen nicht anders: immer noch gehen Kinder und Jugendliche vor allem in möglichst wohnortnahe Schulen, egal wie sehr sich diese spezialisieren oder wie gut und schlecht diese Schulen bei Rankings abschließen. Der erwartete Markteffekt, welcher durch die Darstellung möglichst einfach nachvollziehbarer Informationen [2] und möglichst großer Wahlmöglichkeit der Individuen erreicht werden soll, trat bis heute nicht ein. Ähnliches berichtete im Laufe der Tagung auch Guri Skedsmo für das norwegische Schulsystem, welches ebenso die Wahlfreiheit der Schülerinnen, Schüler und Eltern fördert.
Ebenso ist allerdings auch kein qualitätssteigender Effekt auf die einzelnen Einrichtungen nachzuweisen. Zwar steigen die gemessenen Werte tendenziell, aber das auch überall. Die Abstände bleiben ähnlich groß.
Hingegen sind negative Effekt für die Reputation und Selbstwahrnehmung der getesteten Einrichtungen nachzuweisen. Zum einen das Gefühl des Personals, für minderwertige Einrichtungen zu arbeiten, dass insbesondere nach schlechten Testergebnissen auftritt. Bevan erwähnte Berichte von Menschen, die sich „am Tag danach“ (d.h. nach einem schlechten Testergebnis) leer und ausgebrannt fühlen und auf ihr Arbeitsstelle als trostlos und emotional herabziehend ansehen. Dies ist nicht nur bei Null-Sterne-Ergebnisse zu beachten, sondern auch bei (meist vorübergehenden) Verlusten von einem Stern, was zu wahren Panikreaktionen in den Einrichtungen führen kann. Zudem ist zu beobachten, dass gerade Einrichtungen, die mit einer solchen Abqualifzierung rechnen, hauptsächlich auf Marketing-Aktionen setzen und nicht auf langfristige Strategien.
Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass es nicht etwa ein einziges nationales Testsystem gäbe, welches immer und überall angewandt würde, sondern immer wieder wechselnde Tests , ausgehend von unterschiedlichen politischen Ebenen und mit unterschiedlichen Blickwinkeln.

Campbell’s Law

The more any quantitative social indicator is used for social decisionmaking, the more subject it will be to corruption pressures and the more apt it will be to distort and corrupt the social processes it is intended to monitor. [Campbell’s Law]

Daniel Koretz von der Harvard University zitierte Campbell’s Law, um die Wirkung von Tests im us-amerikanischen Bildungssystem zu kennzeichnen. Campbell’s Law besagt, dass ein Indikator um so mehr ein Objekt von direkter und indirekter Korrumption wird, je mehr er als Basis für gesellschaftliche und politische Entscheidungen herangezogen wird.
Bevor er dies ausführte, stellte Koretz klar, dass der überwältigen Bedeutung von unterschiedlichen Tests und Evaluationen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs wenig bis quasi gar kein Wissen über diese Tests gegenüberstehen. Die gesamten Tests, egal ob lokal eingesetzte Überprüfungen von Standards oder Tests im Umfang der PISA-Studien, sind selber bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Wir haben kaum Daten über die Reliabilität von Tests, wir haben auch kaum ein Wissen darüber, wie groß die tatsächliche Aussagekraft solcher Tests tatsächlich ist.
Dabei erinnerte Koretz an einen eigentlich trivialen, aber gerne übersehenen Fakt, nämlich daran, dass Tests das jeweils gemessene auf small samples reduziert, beispielsweise die Schulabschlussprüfung das Lernen von 10 oder mehr Jahren Schule in einige Stunden Tests oder die IGLU- und PISA-Studien die Lernerfolge von Schülerinnen und Schülern der vierten Klasse respektive 15-Jährigen in jeweils 2-stündigen Tests. Das jeweils abgefragte Sample soll also immer einen größeren Wissens- und Kompetenzbestand repräsentieren. Ob das Sample dies tatsächlich tut, ist nicht so klar, wie dies gerne angenommen wird. Dies ist bei Schulnoten aus zahlreichen Anekdoten bekannt und immerhin soweit akzeptiert, dass gegen Noten der Klageweg vor Gericht möglich ist. Bei den PISA-Studien hingegen oder auch zahlreichen anderen Evaluationen scheint das quasi nicht thematisiert zu werden.
Desweiteren stellte Koretz auf der Basis seiner Forschungsergebnisse zu Evaluationen im Bildungsbereich klar, dass die in diesen Evaluationen jeweils gemessenen Daten und Kompetenzen zumeist „simple and unspecified“ seien, bzw. dass sie zumeist so grob gefasst werden, dass die Menschen zwar mit ihnen umgehen, aber nicht wirklich sagen können, was jetzt genau gemessen wurde und was die jeweiligen Ergebnisse heißen. Lesekompetenz zum Beispiel: was ist das?
Und nicht zuletzt scheint ein Charakteristika von Ergebnissen solcher Test zu sein, dass sie regelmäßig für Aussagen herangezogen werden, die eine gesellschaftliche oder politische Bedeutung haben, aber überhaupt nicht getestet wurden. Hier kann beispielsweise an die im Rahmen der Debatten um die PISA-Studien mit voller Überzeugung geäußerte Behauptungen verweisen werden, dass Bibliotheken einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der – wie gesagt nicht wirklich klar gefassten – Lesekompetenz haben würden, obwohl dieser Einfluss in den Studien überhaupt nicht abgefragt wurde.

Die Überbetonung einzelner Werte, die Campbell’s Law als problematisch herausstellt, führt laut Koretz in US-amerikanischen Schulen zu vier ungewollten Mechanismen:

  1. Cheating, also einfacher Betrug. Je bedeutender das Erreichen bestimmter Werte für die Existenz einer Einrichtung ist oder auch nur dafür, von weiteren Beobachtungen und ungewollten Unterstützungsleistung verschont zu bleiben wird, umso höher ist die Chance, dass dies mit Betrug versucht wird. Dieser Effekt ist allerdings zu erwarten und wird in den meisten Anlagen von Testläufen antizipiert.
  2. Changing which people are treated or measured. Bei jedem bedeutsamen Test kommt es laut Koretz dazu, dass Schulen und lokale Behörden versuchen, bestimmte Schülerinnen und Schüler aus Tests herauszuhalten, indem beispielsweise Ausschlussgründe, die es in jedem Test gibt, sehr weitreichend ausgelegt werden. Bevans hatte Ähnliches für Gesundheitseinrichtungen in England berichtet, wo teilweise bestimmtes Personal oder bestimmte Patientinnen und Patienten an Testtagen von der Einrichtung ferngehalten wird. Selbstverständlich verzerrt sich so jedes Ergebnis.
  3. Shifting efforts from unmeasured to measured outcomes. Dieser Effekt ist eigentlich vorhersehbar, insbesondere, wenn Evaluationen beständig wiederholt werden. Man muss sich allerdings daran erinnern, dass die jeweils gemessenen Werte konstruiert werden, um Aussagen über weiterreichende Kompetenzen zu liefern. Bei der Konstruktion der Tests wird jeweils davon ausgegangen, dass durch das Messen eines Teilbereiches eine Aussage über eine ganzheitlich vermittelte Kompetenz getroffen werden könne. So wurde aus den Ergebnissen der PISA-Test geschlossen, wie die tatsächliche Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler sei. Lesekompetenz ist dabei ein Konstruktion, welches den alltäglichen und problemzentrierten Einsatz des Lesens und der Verarbeitung des Gelesenen beinhaltet. Letztlich waren aber auch diese Test zeitlich begrenzte schriftliche Kontrollen im Klassenraum. Während dies bei einmaligen Test vor allem eine Problem der Aussagekraft darstellt, wird dies bei regelmäßiger Wiederholung zu einen Verzerrungsproblem und führt zu einer Veränderung des Unterrichts. Die Vermittlung von ganzheitlichen Lernstoffen wird zurückgestellt zugunsten des Lernens von getesteten Werten. Dies ist bei den PISA-Studien so überhaupt nicht gewollt. Eigentlich sollen diese Tests so etwas wie ein Photo aus verschiedenen Schulsystemen liefern, während die Schulsysteme davon unbeeinflusst nebenher laufen sollen. Aber das funktioniert einfach nicht. Die Studien selber verändern, worauf im Unterricht und der Wissensvermittlung geachtet wird. Schwierig ist es, den Einfluss dieser Test auf die Gestaltung des Unterrichts genau zu beziffern, aber Koretz nannte Schätzungen, wonach es in US-amerikanischen Schulen üblich sei, sechs Wochen eines Schuljahres vor allem für solche Test – die, anders als die „normalen“ Schularbeiten oder Schuabschlusstests, keinen Einfluss auf die Bildungskarriere der Lernenden haben – zu üben. Abgefragt wird durch die Tests dann also vor allem eine Erinnerung an Geübtes, nicht – wie eigentlich impliziert – eine Kompetenz oder ein Wissensbestand. [3]
  4. Undermining the measured outcomes. Das ist einer unerwünschter, aber eigentlich auch zu erwartender Nebeneffekt: gemessenen werden Daten immer, um mehr, als sich selber auszudrücken. Aber die Fokussierung auf diese Daten – die für die Vergleichbarkeit zwischen Einrichtungen oft notwendig ist – führt dazu, dass die Aussagekraft dieser Daten abnimmt. Die Einrichtungen werden sich, bewusst oder unbewusst, darauf ausrichten, diese Datenwerte zu verbessern und zwar nicht nur, indem die Qualität des Gesamtzusammenhangs, der durch die Daten repräsentiert werden soll, verbessert wird, sondern auch indem hauptsächlich die gemessenen Werte beeinflusst werden. Dies funktioniert oft viel banaler, als man sich das gerne vorstellen will. Der Effekt ist aus Bibliotheken in klein bekannt: am Eingang werden durch einen Zähler die Menschen gezählt, die durch diesen Eingang gehen. Aus dieser Zahl wird auf die Annahme der Bibliothek durch Besucherinnen und Besucher geschlossen. Würde – so die dahinter stehende Überlegung – die Qualität der Bibliothek erhöht, würden auch mehr Menschen diese besuchen. Deshalb wird bei der Bewertung von Bibliotheken die Zahl der Besuche beständig einbezogen. Aber da jede Bibliothek das weiß, kann sie auch darauf achten, dass die Anzahl der am Eingang gezählten Menschen hoch ist, ohne dabei wirklich zu cheaten: beispielsweise andere Ein- und Ausgänge schließen, ein Hinweis darauf abringen, dass es ein öffentliches Klo in der Bibliothek gibt, häufig den offiziellen Eingangs für bibliotheksinterne Gänge nutzen und nicht den Personaleingang, Bestände anschaffen, die zum Mitnehmen und weniger zum in-der-Bibliothek-Nutzen anregen. Das heißt nicht, dass die Zahl der Menschen, die durch den Eingang gehen, unbedeutend wäre. Sinkt sie innerhalb eines Jahres um 50% Prozent, ist das immer noch ein schlechtes Zeichen. Aber ihre Aussagekraft sinkt tendenziell immer weiter, je mehr sich das Wissen um die Bedeutung eines Wertes für die Bewertung einer Einrichtung verbreitet.

Hinzu kommt, so Koretz weiter, dass im schulischen Kontext die Präsentation von Tests zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führt, also beispielsweise eine Frage, die als Aufzählung präsentiert wird zu anderen Ergebnissen führt, als die gleiche Frage, die als Fließtext oder als Tabelle präsentiert wird. Insgesamt sei die Aussagekraft von Tests sehr gering, bzw. größtenteils „Nonsense“. Als Forschungsperspektive im Bereich Evaluationen und Standards nannte Koretz abschließend den impact on behavoir and on learning and the score inflation.
[Vgl. auch: Koretz, Daniel / Measuring Up : What Educational Testing Really Tells Us. – Cambridge, MA: Harvard University Press, 2008]

In der abschließenden Fragerunde nannte Koretz auf explizite Nachfrage als positiven Effekt der beständigen Evaluation und Testung US-amerikanischer Schulen, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die Schulleitungen gezwungen wären, ihre eigene Arbeit schriftlich zu dokumentieren und zu reflektieren. (Allerdings gibt es aus englischen Bibliotheken auch schon die Klage, dass sie durch das ständige Berichteschreiben nicht mehr zum bibliothekarischen Arbeiten kämen.)
Gwyn Bevan argumentierte im Anschluss an Koretz‘ Vortrag, dass die Steuerung öffentlicher Einrichtungen durch Evaluationen und Standards strukturelle Ähnlichkeiten zum Kommandosystem der Sowjetunion aufweise, in welcher auch der Großteil der Verantwortung bei den jeweiligen Einrichtungen gelegen hätte und hauptsächlich über die Vorgabe von zu erreichenden Werten, die zumeist vereinheitlicht waren und auf die realen Gegebenheiten vor Ort wenig Rücksicht nahmen, regiert wurde.
Seine geringe Meinung von Testwerten untermauerte Koretz noch einmal mit dem Hinweis, dass seiner Erfahrung nach Tests zumeist nur das herauskriegen, was eh bekannt sei. Unerwartete Ergebnisse seinen zumeist auf Fehler in den Tests zurückzuführen. Wouter Van Dooren (Universiteit Antwerpen) illustrierte das an den PISA-Ergebnissen in Belgien. Belgien besteht bekanntlich aus zwei Regionen, Flandern und Wallonien, sowie der Hauptstadt Brüssel als eigener Region. Die Geschichte des Schulsystems in den beiden großen Regionen lange gleich verlaufen, erst vor ungefähr zehn Jahren wurden sie in den Verantwortungsbereich der Regionen überlassen, wobei die Struktur der Schulsysteme trotzdem ähnlich blieb. Die Schulen haben in beiden Landesteilen eine relativ große Autonomie. Die PISA-Ergebnisse fallen allerdings radikal auseinander: nimmt man nur Flandern, dann ist diese Region besser, als Finnland und Südkorea, misst man nur Wallonien, dann ist diese Region ungefähr so schlecht wie Deutschland. Es gibt für diese Ergebnisse keine wirkliche Erklärung, da die Strukturen, die gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzungen und die Geschichte der Schulsysteme nahezu identisch sind. Eventuell, so Van Doorens Vermutung, liegt der Fehler tatsächlich in der Konzeption der PISA-Studien, nicht in den Schulsystemen, was allerdings die Frage aufwirft, wozu diese Studien dann überhaupt gut seien.

Anne West (London School of Economics and Political Science) konnte Koretz‘ Einschätzungen für die Schulen in England bestätigen. Sie stellte einen weiteren ungewollten Effekt der beständigen Evaluation, das ressourcen fest. Englische Schulen werden nach Standards bewertet, die beispielsweise besagen, dass 30% der Schülerinnen und Schüler in einem bestimmten Test eine bestimmte Note erhalten sollen. Nun haben Schulen immer solche Lernenden, die diese Noten von sich aus erreichen, Lernende, welche solche Noten nicht erreichen und Lernende, deren durchschnittlichen Leistungen an der Grenze dieser Noten liegen, die also vielleicht, aber vielleicht auch nicht diese Note erreichen. Intern logisch, aber nicht intendiert, ist nun, dass Schulen ihre Ressourcen auf die Schülerinnen und Schüler konzentrieren, die sich an dieser Grenze befinden, also beispielsweise Nachhilfestunden oder besondere Förderung im Unterricht erhalten, damit diese bei den relevanten Tests die bessere Note erreichen. Davon haben weder die Klassen als Gesamtverband etwas, da nur ein Teil der Lernenden gefördert wird, noch die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler, die eigentlich besondere Aufmerksamkeit verdienen würden und für deren Förderung eigentlich von Regierung Mittel bereitgestellt werden, die aber von den Schulen zum großen Teil zum ressourcen genutzt würden.
Zudem bestätigte auch West den Trend, das Schulen versuchen, Kinder und Jugendliche bei Test außen vor zu halten, auch wenn es dafür keine direkten Hinweise gäbe. Wichtig ist, dass diese Trends allgemein festzustellen sind, es also kein individuelles Fehlverhalten einzelner Schulen oder Lehrkräfte sei, sondern Effekte, die in der Struktur von Evaluationen und Bildungsstandards angelegt scheint.
Die Frage, warum überhaupt evaluiert würden und warum die Bildungspolitik trotz negativer Erfahrungen immer wieder auf Standards und Vergleichsstudien zurückgreift, konnte auch West nicht beantworten. Sie vermutete aber, dass es eher mit der Funktion des politischen Systems und weniger mit dem Bildungssystem zu tun habe: „at least there have to measure something“. Alles andere würde heißen, dass die Politik eingestehen müsse, dass die Evaluationen, welche das englische Schulsystem prägen würden, eine jahrelang beschrittene Sackgasse darstellen würde.

Tests sind politisch
Evaluationen und Vergleichsstudien sind, so kristallisierte sich im Laufe der Konferenz in fast allen Redebeiträgen immer mehr heraus, hauptsächlich politische Instrumente und nicht, wie sie oft verstanden werden, unangreifbare, wissenschaftlich fundierte und objektive Instrumente. [4]
Bénédicte Robert (Université Paris 12 val de Marne, Sciences Po) stellte dies an der Umsetzung des No Child Left Behind Act in Chicago dar. Der No Child Left Behind Act, erlassen 2001, definiert, dass bis 2014 eigentlich alle (100%, wobei politisch umstritten ist, was diese 100% genau heißt) Schülerinnen und Schüler in den USA den gleichen Standard in Lesekompetenz und der mathematischen Kompetenz erreichen sollen. Dazu wird auf eine standardbasierte Evaluation und Steuerung des Schulsystems, auf sogenannte, aber auch nicht genauer beschriebene, „scientifically based research“ und eine Wahlfreiheit zwischen den einzelnen Schulen gesetzt. Zumeist bedeutet die „scientifically based research“ die Vergabe von Evaluationsaufträgen an Unternehmen, die zwar wissenschaftliche Methodiken einsetzen, aber nicht Teil von wissenschaftlichen Einrichtungen darstellen, vergleichbar mit Umfrageinstituten wie Emnid, forsa oder Infratest und Einrichtungen wie Sinus Sociovision. Wichtig ist für diese Politik die Formulierung nationaler Bildungsstandards und der beständige Einsatz von Vergleichsstudien. Die im Rahmen des Gesetzes angewendeten Standards sind Ergebnis politischer Auseinandersetzungen, nicht pädagogischer Debatten.
Ergebnis dieser Politik war allerdings bislang nicht, dass sich die Qualität der Schulen verbessert hätte. Zwar steigen die Ergebnisse bei den regelmäßigen Test, doch scheint dies eher zu den von Koretz dargelegten ungewollten Effekten von Evaluationen zu gehören. Vielmehr hat sich, wie Robert darstellte, ein Kompetenzstreit zwischen unterschiedlichen politischen Ebenen darüber entwickelt, was genau, wie und wann gemessen wird. In Chicago hat dies beispielsweise den Effekt, dass die Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr zwei unterschiedliche Tests schreiben müssen, einmal den, der im Bundesstaat Illinois verwendet wird und einmal den, welchen die Stadt Chicago verwendet. Interessant ist, dass durch die Konzentration auf Standards und Evaluationen, trotz aller Rhetorik von der erweiterten Autonomie der Schulen, der (verfassungsrechtlich nicht zu begründende) Einfluss des Nationalstaates und von Nicht-schulischem Personal, insbesondere aus der lokalen Wirtschaft, auf die Schulen zugenommen hat.
Giliberto Capano (Università di Bologna) fasste die Situation in Italien zusammen. In Italien existiert zwar seit 1994 eine Einrichtung, die für die Regierung Daten über die Hochschulen sammeln soll, was sie auch – das erste Mal in der italienischen Geschichte – kontinuierlich tut. Allerdings wird auf diese Daten von der Regierung – die in Italien auch relativ oft wechselt – kaum zurückgegriffen. Bisher gäbe es keine klaren und konsistenten Aussagen der Politik, was diese überhaupt von den Hochschule wolle, schlimmer noch: die einmal gemachten Forderungen scheinen relativ belanglos, ihre Umsetzung wird weder überprüft, noch bewertet. Ob eine Universität sie umsetzt oder nicht, scheint relativ egal. Ohne solche Vorgaben sei allerdings – abgesehen von allen anderen Problemen – jewede Evaluation vollkommen sinnlos.

Auch wenn das auf der Konferenz selber kein Thema war, geht die Formulierung von Tests immer auch mit einer kritischen Forschungsrichtung zusammen, die daran arbeitet, „faire Tests“ zu entwickeln, die unterschiedliche Ausgangsbedingungen einbeziehen und es beispielsweise ermöglichen sollen, unterschiedliche langfristig angelegte Schulkonzepte abzubilden. Der Einfluss dieser Forschungen scheint bisher aber nicht allzu groß zu sein.

Was ist zu erwarten?
Die Konferenz wurde einberufen, um sich darüber klar zu werden, was die sich abzeichnende Wende hin zu Standards und evaluationsbasierte Outcome-Analysen in der Bildungspolitik für das deutsche (formale) Bildungssystem bedeutet. Allerdings, so fasste Jutta Allmendinger am Ende der Konferenz zusammen, wissen wir immer noch nicht, was das ganze Messen und Standardisieren mit der Entwicklung der Schulqualität zu tun hat. So wie es aussieht, scheinen die negativen Einflüsse zu überwiegen.
Allmendinger verwies darauf, dass auch in deutschen Debatten um die Bildungsqualität der Fokus auf bestimmte Werte gelegt wird. Sie kündigte an, dass das WZB sich in der nächsten Zeit damit beschäftigen wird, wie in diesen Debatten soziale Kompetenzen einbezogen werden können, die bislang überhaupt nicht thematisiert sind.

Die Wende hin zum Testen und Betonen von evaluierbaren Outcomes wird nicht allein im Schulbereich stattfinden. Vielmehr scheint aktuell die gesamte öffentliche Verwaltung davon ergriffen zu sein. Deshalb wird sich dies auch auf Bibliotheken auswirken. Der BIX-Bibliotheksindex ist dabei nur ein kleiner Schritt. Seine Reichweite ist beschränkt, die Teilnahme an ihm ist noch freiwillig und die Kritik an den in ihm bedeutsamen Werten und deren Analyse ist wenn auch nicht dokumentiert, so doch relativ weit verbreitet. Aber die Grundidee, dass Standards dabei helfen würden, dass die Qualität von Bibliotheken nachgewiesen und verbessert werden könnte, scheint sich immer mehr durchzusetzen, obwohl dies bislang im besten Fall eine theoretische Möglichkeit darstellt. Eine empirische Evidenz für den positiven Effekt von Standards und Evaluationen gibt es für Schulen nicht, es gibt ihn für das Gesundheitswesen nicht, insoweit wäre es überraschend, wenn es ihn für Bibliotheken gäbe. Die Arbeitgruppe „Bibliothek 21“ schlägt dennoch relativ ausgearbeitete „Leistungs- und Qualitätsstandards für Bibliotheken“ vor, dass sich hauptsächlich auf Prozentwerte stützt. Ob dieser Vorschlag irgendeinen Einfluss zeitigen wird, wird abzuwarten bleiben.
Wichtiger erscheint, dass es mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu kommen wird, dass auch für Bibliotheken Standards von Dritten erlassen werden, denen man sich nicht so leicht wird entziehen können, wie dem BIX. Die PISA-Studien kamen ja auch nicht, weil die Schulen sie gewollt hätten, sondern weil die Kultusministerkonferenz einem Vorschlag der OECD zustimmte. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht hilfreich, an Nico Stehrs Fazit seiner Studie zum Einfluss des Wissens auf die Konstitution moderner demokratischer Einrichtungen und Gesellschaften zu erinnern:

Dennoch wird die Abhängigkeit vom Wissen weiter zunehmen. Denn trotz der Demystifizierung des Wissens kann die Alternative nicht lauten, statt dessen mehr oder weniger zufällig auf irgendwelche Glaubensvorstellungen zu vertrauen. Man muß sich mit dem Gedanken der Kontingenz des Wissens vertraut machen und die Illusion verabschieden, daß dieser Zustand nur eine vorübergehende Erscheinung sei, die über kurz oder lang wieder verschwindet.
[Stehr, Nico / Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften : Die Stagnation der Macht und die Chancen der Individuums. – Weilerswist : Velbrück Wissenschaft, 2000, S. 309]

Fußnoten:
[1] Hierzu ist in Gesundheitsbereich eine freie Wahlmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger notwendig, die in Deutschland durch das Hausarztprinzip nicht gegeben ist. Im Bildungsbereich ist für eine solches System auch eine Wahlfreiheit notwendig, die aufgrund des Wohnortprinzips bei Schulen (d.h. das prinzipiell Schülerinnen und Schüler in der nächstgelegenen Einrichtung eingeschult werden sollen) in Deutschland ebenso nicht gegeben ist.
[2] Im Allgemeinen gehen alle zeitgenössischen betriebswirtschaftlichen Theorien davon aus, dass zum funktionieren eines Marktes informierte Marktteilnehmer gehören. Nur wenn alle Teilnehmenden an einem Markt auf die gleichen Informationen zurückgreifen können werden sie dieser Überzeugung nach rationale Marktentscheidungen treffen. Ansonsten würde die Interaktionen auf dem Markt nicht unter Gleichen stattfinden. Als ein möglicher Grund für ein Marktversagen wird deshalb die angebliche oder reale Uninformiert einzelnen Akteure angesehen. Obwohl klar ist, dass Informationsmonopole einen einschränkenden Einfluss auf Märkte haben, ist der positive Markteffekt einer allgemeinen Informiertheit bislang nicht wirklich empirisch abgesichert, ebenso wenig wir die Vorstellung, dass Marktteilnehmer hauptsächlich rationale Entscheidungen treffen würden.
[3] Dies wird auch möglich, da sich um diese Tests herum ein eigenständiger Wirtschaftszweig entwickelt hat. Dies Tests werden öfter von wirtschaftlichen Einrichtungen und weniger von wissenschaftlichen Institutionen entworfen und durchgeführt. Aus Gründen der Transparenz sind die Anlage all dieser Test inklusive Beispielaufgaben im Buchhandel zu erhalten, zudem Übungsbücher und Kurse für die jeweiligen Kurse, was genau genommen vollkommen gegen die Grundüberlegung dieser Tests wirkt, die ja eigentlich Aussagen über größere Zusammenhänge ermöglicht werden solle. Zu vergleichen ist dies teilweise mit dem absurden Wettlauf um den perfekten Lebenslauf, in den sich in Deutschland (und anderswo) Arbeitssuchende stürzen. Einerseits gibt es Hinweise, Bücher und Kurse darüber, worauf Arbeitergeber achten würden und zwar in einer wachsende Zahl mit durchaus widersprüchlichen Angaben. Anderseits gibt es die Arbeitgeber, die sich immer wieder auf neue Auswahlkriterien einigen müssen, da die alten nichts mehr taugen, einfach, weil zu viele Menschen absichtlich auf bestimmte Dinge achten, wenn die Bedeutung dieser Dinge erstmal bekannt gemacht wurde. Gab es beispielsweise eine Zeit, in der bei einer Anzahl von Stellen darauf geachtet wurde, das Menschen irgendwie in ihrem Anschreiben andeuten, sozial aktiv zu sein, setzte sich irgendwann die Floskel, man wolle „gerne was mit Menschen machen“ so sehr in fast allen Bewerbungen durch, dass dieses Kriterium nichts mehr galt. War einst ein Lebenslauf, der viele ehrenamtliche Tätigkeiten enthielt, ein Auswahlkriterium, da Menschen mit einem solchen ein hohe Selbstorganisationsfähigkeit zugestanden wurde, gilt dieses Kriterium immer weniger, nachdem es sich herumgesprochen hat und heute jede zweistündige Tätigkeit als Linienrichter bei einem Sportfest als bedeutsame ehrenamtlich Tätigkeit in den Lebenslauf aufgenommen wird, die auch nicht mehr von einer langjährigen Tätigkeit als Jugendtrainer zu unterscheiden ist. Dies ist ein ständiger Wettlauf, der dem eigentlichen Ziel, sich a.) als Arbeitsuchende möglichst gut zu präsentieren und b.) als Arbeitgebende, dass für die jeweilige Stelle und den Arbeitszusammenhang passende Personal zu finden, nicht im geringsten dienlich ist. Letztlich scheinen oft die Menschen „zu gewinnen“, die die zufällig richtigen Bewerbungsratgeber gelesen haben und weniger die, welche am Besten auf die Stelle passen würden. (Erinnert sich noch jemand an die Zeit, wo die Handschrift auf den Briefumschlägen, mit denen Bewerbungen geschickt wurden, angeblich graphologisch ausgewertet wurden? Und daran, wie Menschen tatsächlich diese Adressen von anderen Menschen schreiben ließen, weil sie meinten, ihrer Handschrift vermittle das falsche Bild?)
[4] Zumal, wie Nico Stehr immer wieder betont, gesellschaftlich ein unzutreffendes Bild von wissenschaftlichem Wissen verbreitet ist. Während wissenschaftsinterne die Prekarität und beständige Diskussion wissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse als Vorteil gilt, versteht die Gesellschaft allgemein wissenschaftliches Wissen als unumstößliches Tatsachenwissen, quasi als letztmögliche Tatsachenaussage. Zumindest wird wissenschaftliches Wissen so benutzt, als sei es unumstößlich. Deshalb wird der Expertin und dem Experten eine Aussagekraft zugestanden, die sich nicht aus der Qualität der gelieferten Daten heraus begründen lässt.

„Euer Fehler ist nicht unsere Schuld“ – Die Fehleranfälligkeit zentraler Systeme

In Berlin werden demnächst rund 28.000 Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse die zentrale Matheprüfung nachschreiben müssen. Die Geschichte ging durch die Presse und hat – solange man nicht selber näher oder ferner Betroffen ist – ihre eigene Komik.
Die Idee der zentralen Matheprüfung ist, dass eine standardisierte Prüfung für alle Lernenden eines Jahrgangs deren Leistungsstand genauer abbilden würde, als Prüfungen, die zwar auf dem gleichen Rahmenplan beruhen, aber in den jeweiligen Schulen entworfen und ausgewertet würden. Ob das stimmt, ist nicht so klar, wie es auf den ersten Blick erscheint. Aber immerhin liegt die Berliner Schulverwaltung mit dieser zentralen Prüfung im bundesweiten Trend.
Nun soll, so der Senat, einer überraschend großen Zahl von zu Prüfenden die Aufgaben schon vor der Prüfung bekannt gewesen sein. Die Rede ist von 87 betroffenen Schulen – bei insgesamt 346, in denen die Prüfungen stattfanden. Es hätte, so der Senat weiter, ein Leck gegeben. Das, wenn die Zahl stimmt, dieses Leck bei 87 Schulen ziemlich groß gewesen sein muss oder aber dass die Berliner Schülerinnen und Schüler eine Kompetenz bei der (heimlichen!) Verbreitung dieser Aufgaben an den Tag gelegt haben müssten, die es fragwürdig erscheinen lässt, ob sie überhaupt noch Informationskompetenzen vermittelt bekommen müssen, wird nicht thematisiert.
Der Senat beschloss zumindest, dass die Arbeit nachzuschreiben sei. Vollkommen berechtigt sind die Lernenden in den letzten Tagen dagegen mit relativ großer Unterstützung auf die Straße gegangen. Nicht nur, weil jede Prüfung Stress ist, sondern weil – wie es so schön einfach auf der zentralen Demonstration hieß – es nicht ihre Schuld war, wenn es tatsächlich diesen Betrug gegeben haben sollte. [Abgesehen von den Schülerinnen und Schülern, die betrogen haben. Aber das sie die Chance dazu hatten, war auch nicht ihre Schuld.] Es ist ein Problem der zentralen Verwaltung dieser Prüfung.
Andere Lernende zogen vor Gericht, um die schon geschriebene Arbeit als gültig werten zu lassen. Das mag man auf den ersten Blick auch übertrieben halten und eventuell ist es das auch in einigen Fällen. Allerdings nicht in allen. Die erste Klage wurde offenbar für eine Schülerin eingereicht, die durch das Nachschreiben der Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren vorgesehenen Ausbildungsplatz nicht wird antreten können. Das deutet immerhin an, welche Auswirkungen eine solcher Fehler haben kann: es wird in die Lebensgestaltung der Jugendlichen eingegriffen, gerade zu einem Zeitpunkt, der für viele biographisch entscheidend ist, weil sie den Übergang von den Bildungseinrichtung in den Ausbildungsmarkt bewerkstelligen müssen. Dabei werden sie nun behindert. Eine große Anzahl von Schülerinnen und Schüler wird zum Zeitpunkt der Prüfung auch Praktika absolvieren, oft auch außerhalb Berlins. Da solche Praktika heute oft erst den Weg in eine Ausbildung ebnen, sind sie jetzt wirklich „am Arsch“. Schließlich müssen sie für den Test nicht nur nach Berlin anreisen, sondern zuvor auch noch für in lernen, während Praktikantinnen und Praktikanten aus anderen Bundesländern dies nicht müssen, was diesen einen leicht nachzuvollziehenden Vorteil verschafft.

Fehleranfälligkeit
Dieses Beispiel zeigt, über den Einzelfall hinaus, ein allgemeines Problem auf: die Vorstellung, dass durch die Zentralisierung von Diensten und Aufgaben ein Gesamtsystem effektiver arbeiten würde, stimmt so einfach nicht. Jede Zentralisierung erhöht das Problem der Anfälligkeit dieses Systems. Wenn Aufgaben zentriert werden, schlägt ein Fehler, ein Ausfall oder auch eine Entscheidung stärker auf das Gesamtsystem durch. Im Gegensatz zum Effektivitätsdispositiv, das bei Zentralisierungen in Systemen aufgerufen wird und der Vorstellung, letztlich alles so gut wie möglich kontrollieren zu müssen, damit es funktioniert, welche in Deutschland die Politik grundlegend bestimmt, stellen zentralisierte Systeme sehr fragile und relativ langsam agierende Institutionen dar.
Verteilte Systeme sind auch nicht perfekt, unter einem bestimmten Blickwinkel kann man ihnen immer wieder die Verschwendung von Ressourcen vorwerfen. Und ab einem bestimmten Level der Offenheit sind sie teilweise auch nicht mehr in der Lage, irgendwie sinnvoll zu agieren. Aber dafür sind sie nicht nur geschmeidiger, sondern auch signifikant fehlertoleranter. Eigentlich sollte das für Menschen, die sich mit der Architektur des Internets oder der Arbeitsweise bei der Pflege Freier Software, keine neue Erkenntnis sein.
Dennoch, wie das Beispiel aus Berlin beweist, ist das kein akzeptiertes Allgemeinwissen. Oft bedarf es eines Zwischenfalls, um die Fehleranfälligkeit zentraler Systeme nachzuweisen. Und auch dann sind diese Systeme nicht einfach in der Lage, zu reagieren oder auch nur Willens, ihre Architektur als Problem anzuerkennen. Die Berliner Senatsverwaltung ist bis jetzt der Meinung, dass es zwar irgendwo ein Leck gab, aber dass das Problem nicht bei der Idee der zentralen Prüfung an sich liegen könnte. Doch das war ja in der Musik- und Softwareindustrie auch nicht anders. Die großen Labels mussten erstmal lernen, dass es für sie besser ist, Sublabels relativ frei agieren zu lassen. Das hat dann eine Zeit in der 1980ern und 1990ern funktioniert, aber bis dahin haben sie viel Geld und Arbeitszeit dafür aufbringen müssen, die Auswirkungen ihrer eigenen Zentralisierung abzufangen. Und der Softwaremarkt musste erst durch den Erfolg von Freier Software, bei der zumindest versucht wird, jeweils auf Netzwerke zurückzugreifen, dazu gezwungen werden, sich langsam zu öffnen und die Idee, alles zentral steuern zu können, aufzugeben. Das ist auch immer noch ein nicht abgeschlossener Prozess.

Zentralisierung in Bibliotheken
Aber hat dies auch für Bibliotheken eine Bedeutung? Auf jeden Fall. Mehr als ein Bibliotheksentwicklungsplan reagiert auf die allgegenwärtigen finanziellen Krisen mit dem Vorschlag, Dienste zu zentralisieren. Quasi alles, was nicht vor Ort in der einer Bibliothek getan werden muss, wird zur Disposition gestellt: zentrale Katalogisierung, zentrale Erwerbung, zentrale technische Dienste, zentrale Planungen der Öffentlichkeitsarbeit, von Veranstaltungen oder bibliothekarischer Angebote für Schulen und einiges mehr. Die Idee dahinter ist immer wieder, dass eine solche Zentralisierung den effizienteren Einsatz von ökonomischen Mitteln ermöglichen würde.
Zwar regt sich immer mal wieder gegen solche Vorschläge ein leichter Protest. Aber dieser ist selten und zudem nicht unbedingt der Ablehung der Idee der Zentralisierung geschuldet, sondern oft der Angst, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten abgeben zu müssen. Allgemein scheint akzeptiert zu sein, dass die Zentralisierung von bibliothekarischen Diensten hilft, Geld einzusparen und Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. Bei der Zentralisierung wissenschaftlicher Bibliotheken geht es zudem oft darum, dass Institute einen Bedeutungsverlust befürchten, wenn sie Bibliotheken „abgegeben“ müssen.
Aber so einfach ist das nicht. Es fällt auf, dass selten von den negativen Folgen solcher Zentralisierung gesprochen wird. Sie werden nicht nur nicht gemessen, es wird nicht einmal nach ihnen gefragt. Dabei sollte es bei Bibliotheken nicht anders sein, als bei anderen Systemen: je zentraler, desto fehleranfälliger.
Gibt es solch negativen Folgen überhaupt? Immerhin sind von Fehlern in der Bibliotheksverwaltungen selten 28.000 Schülerinnen und Schülern beim Übergang in den Ausbildungsmarkt betroffen, oder? Meineserachtens schon. In mehr als einen System Öffentlicher Bibliotheken ist – um ein Beispiel zu nennen – in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Arbeitsgang oder Teile des Arbeitsganges [wohl zumeist die Katalogisierung] zentralisiert worden. Abgesehen davon, dass nicht klar ist, warum dann all die anderen Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den jeweiligen Systemen jahrelang während ihrer Ausbildung das Katalogisieren üben mussten, führt dies oft zu einer erstaunlichen Schwerfälligkeit im Bestandsaufbau der betroffenen Bibliotheken, zu einer Abnahme bibliothekarischer Dienstleistungen und zu einer Senkung der Qualitäts des Bestandes. Einerseits ist die Katalogisierung durch die Zentralisierung ein Nadelöhr: staut es sich bei ihr, stockt der Bestandsaufbau und die Bestandspflege in allen Bibliotheken des Systems. Da Zentralisierungen zumeist wegen eines ökonomischen Drucks vorgenommen werden, ergibt sich oft die Situation, dass es aufgrund fehlenden Personals auch in den neugeschaffenen zentralen Einrichtungen zu genau solchen Staus kommt. Schnell einen Bestand aufzubauen, beispielsweise weil sich in lokalen Rahmen ein Thema als Gesprächsthema etabliert oder weil man beschließt, eine Zielgruppe anzusprechen, ist so kaum noch möglich.
Ein anderes Problem sind die Fehler bei der Katalogisierung, also zumeist die falsche Zuordnung von Medien. Diese Fehler treten garantiert auf: es gibt sie in jedem Katalog, aber sie werden gewiss verstärkt durch die tendenzielle Überarbeitung in zentralen Katalogisierungabteilungen und den Umstand, dass die dortigen Kolleginnen und Kollegen selber wenig oder gar nicht mit dem Bestand selber arbeiten, in den hinein sie katalogisieren, weil das nicht zu ihrem Aufgabenfeld gehört. Sie stehen einfach nicht vor den Regalen. Das wirkliche große Problem ist meist, dass es aus Gründen der erwarteten Effizienzsteigerung durch die Zentrale Katalogisierung untersagt ist, in den einzelnen Bibliotheken selber irgendetwas an den Katalogdaten zu ändern. Wird ein Fehler entdeckt, muss das Medium mit Anmerkung zurück an die zentrale Katalogisierung. Man kann sich vorstellen, wie „begeistert“ man dort sein wird, wenn beständig aus Bibliotheken Medien zurückkommen mit der Aussage: da ist euch ein Fehler unterlaufen. Außerdem kann man sich den Verwaltungsaufwand ausmalen, der Entstehen würde, wenn tatsächlich alle Medien, die nicht ganz richtig katalogisiert worden sind, an die zentrale Katalogisierung geschickt würden.
Aber ändern kann es niemand anders. Also werden die Medien eher am falschen Ort im Regal belassen und darauf gehofft, dass sie über den Katalog gefunden werden. Das Ergebnis ist dann ein Bestand, der nicht mehr durch Augenschein und Browsen erschlossen werden kann. Und das führt dazu, dass sich noch weniger Menschen in der jeweiligen Bibliothek zurückrechtfinden. Insoweit hat die zentrale Katalogisierung unter Umständen einen negativen Effekt für die jeweiligen Bibliotheken, welcher nicht unbedingt durch die positiven Effekte aufgefangen werden, insbesondere, wenn man diese Effekte über einen längeren Zeitraum zu bestimmen versucht.

Kosten der Zentralisierung?
Doch solche Effekte werden kaum herangezogen, wenn es um die Entwicklung von Bibliotheken geht. Betont werden immer wieder die zu erwartenden positiven Effekte und es dauert mindesten seine Zeit, bis die negativen Auswirkungen erkennbar werden.
Dabei gibt es immer wieder auch gute Gründe für Zentralisierungen, genauso wie die zentrale Matheprüfung ja auch eine gesamt-berliner Schulentwicklung ermöglichen soll. Aber nur positive Effekte? Nie. Nirgends.

PS.: Beim Zentralabitur in Nordrhein-Westfalen ist es ähnlich haarsträubend, wie die Fehler des Gesamtsystems auf die Schülerinnen und Schüler durchschlagen: Schöne Neue Mathematik und der Oktaeder des Grauens

Man glaubt es ja fast nicht: Bildungssystem schlecht

Wäre man Anhänger oder Anhängerin des Sarkasmus, man hätte gerade gute Zeiten. Da wurde mit sehr viel Geld und personellen Ressourcen der Anfang zum Aufbau einer Bildungsberichterstattung gemacht und die ersten Ergebnis lauten: das Bildungssystem ist uneffektiv, verstärkt soziale Ungleichheiten massiv und ist auch außerhalb des formellen Bildungssystems nicht halb so erfolgreich, wie das nach der politischen Rhetorik um Lebenslanges Lernen und Weiterbildung zu erwarten wäre.
Lässt man den Sarkasmus außen vor, kann es trotzdem lustig finden, dass die Bildungspolitik seit einigen Jahren versucht, sich durch empirische Bildungsforschung ein Wissen produzieren zu lassen, mit dem sie realistischere Entscheidungen treffen kann. Und dann ist das Ergebniss dieser Bildungsforschung, dass fast alle Probleme, die bislang von Kritikerinnen und Kritikern des deutschen Bildungssystems geäußert, von der Politik aber zumeist als nicht in diesem Maße existent bezeichnet wurden, doch existieren. Und zwar meist gravierender ausfallen, als bislang angenommen.
Ein paar Zitate aus der Pressemitteilung zum Nationalen Bildungsbericht 2008 vom Donnerstag, den 12.06.2008. Zugegeben, es sind sehr ausgewählte Zitate, aber wie man an der Menge sieht, besteht auch fast die gesamte Presserklärung aus solchen ‚überraschend‘ schlechten Ergebnissen. [Am 12.06. wurde auch der gesamte Bildungsbericht veröffentlicht, aber ich bezweifle, dass diejenigen, die aktuell aus dem Bericht zitieren, die 355 Seiten wirklich gelesen haben, trotz aller Vorveröffentlichungszeiten für Auftraggebende und Presse.]


Studiennachfrage bleibt zu gering.
Nach mehreren Jahren des Rückgangs ist 2007 erstmals wieder eine Steigerung der Studienanfängerzahl zu verzeichnen. Die Studienanfängerquote liegt nun bei knapp 37% (einschließlich derjenigen Studierenden, die aus dem Ausland kommen und auch vielfach dorthin wieder zurückgehen); sie hat weder den Höchstwert von 39% aus dem Jahr 2003 noch die vom Wissenschaftsrat gesetzte Zielmarke von 40% erreicht. […]
Weiterbildungsbeteiligung stagniert. Die im Bildungsbericht 2006 konstatierte Diskrepanz zwischen einer intensiven öffentlichen Rhetorik zum lebenslangen Lernen und der tatsächlichen Beteiligung der Bevölkerung an allgemeiner und beruflicher Weiterbildung hat sich auch im neuen Berichtszeitraum nicht aufgelöst. Insbesondere die schwache Beteiligung gering qualifizierter Bevölkerungsgruppen wie auch älterer Menschen bedarf der verstärkten Aufmerksamkeit. […]
Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss unverändert hoch. 2006 haben rund 76.000 Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen, ohne zumindest über einen Hauptschulabschluss zu verfügen. Vielfach wird der Hauptschulabschluss nachgeholt, aber im Alter von 18 bis unter 25 Jahren haben 2,4% immer noch keinen Abschluss und befinden sich nicht mehr im Bildungssystem; dieser Wert hat sich seit 2000 sogar leicht erhöht. […]
Nach wie vor deutliches Übergewicht an Abwärtswechseln im Sekundarbereich I.
Der Besuch einer Schulart des Sekundarbereichs I scheint relativ stabil zu sein und wird von lediglich 3% der Siebt- bis Neuntklässler nachträglich durch einen Schulartwechsel korrigiert. Auf jeden aufwärts gerichteten Wechsel [also z.B. von der Realschule ins Gymnasium, K.S.] kommen dabei fast fünf Abwärtswechsel in niedriger qualifizierende Schularten. […]
Effektivität des Übergangssystems ist zu hinterfragen. […] Von der größten Gruppe der Teilnehmer am
Übergangssystem, den Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss, gelingt nur einem Drittel im Laufe von 18 Monaten die Einmündung in eine vollqualifizierende Ausbildung. Zweieinhalb Jahre nach Schulende hat sich dieser Anteil auf 50% erhöht. Insgesamt befinden sich zweieinhalb Jahre nach Schulabschluss drei Viertel aller Jugendlichen in einer vollqualifizierenden Ausbildung, bei den Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss sind es 60%. Da zum Teil mehrere Maßnahmen nacheinander besucht werden und die Verläufe von Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss deutlich ungünstiger sind, stellt sich die Frage nach der Effektivität und Effizienz des Systems. [Man muss die Werte einfach mal umdrehen, um den Skandal noch deutlicher werden zu lassen: 40% der Hauptschulabgängerinnen und Hauptschulabgänger hatten auch 2,5 Jahre nach dem Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz, nicht mal in den Fakeausbildungsgängen der Agentur für Arbeit, die selten in den Arbeitsmarkt führen. Und gezählt sind hier nur die, die sich überhaupt bei der Agentur für Arbeit ausbildungssuchend melden. Beispielsweise Frauen, die sich für die Mutterschaft in einer Ein-Ernäherfamilie „entscheiden“ und nie eine Ausbildung suchen oder Menschen, die gleich als Aushilfen im Familienbetrieb bleiben und ebenso keine selbstbestimmte Ausbildung erhalten, sind in den Zahlen noch nicht mal enthalten. K.S.] […]
Direkter Übergang aus der Berufsausbildung in die Hochschulen kaum möglich. In allen Ländern wurden seit 1990 unterschiedlich ausgestaltete Verfahren für den Hochschulzugang beruflich qualifizierter Bewerber ohne schulische Studienberechtigung eingeführt. Diese häufig unter dem Begriff des Dritten Bildungsweges zusammengefassten Möglichkeiten machen jedoch gerade einmal 1% der Zulassungen an Universitäten und 2% im Fachhochschulbereich aus. […]
Zum Teil lange Übergangswege in eine vollqualifizierende Ausbildung. Vor allem Abgänger und Absolventen aus Hauptschulen benötigen lange, um eine Ausbildung im dualen System oder im Schulberufssystem beginnen zu können. Nach zwei bis zweieinhalb Jahren sind drei Fünftel von ihnen in eine vollqualifizierende Ausbildung eingemündet. […]
Sozialer Status und Bildungsstand der Herkunftsfamilie: Einfluss verstärkt sich bis zum Übergang in die Hochschule. Mit einem höheren sozioökonomischen Status gehen bis zu dreimal geringere Hauptschul- und bis zu fünfmal höhere Gymnasialbesuchsquoten einher. Internationale Schulleistungsstudien zeigen, dass die Kopplung zwischen sozialem Status der Herkunftsfamilie und erworbenen Kompetenzen in Deutschland nach wie vor stärker ausgeprägt ist als in anderen Staaten. Auch der Hochschulzugang erzeugt neue Disparitäten: Kinder aus Akademikerfamilien nehmen bei gleichen Abiturnoten häufiger ein Studium auf als Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern. […]
Migrationshintergrund führt in allen Stufen des Bildungssystems zu Benachteiligungen. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind selbst bei gleichem Sozialstatus seltener auf dem Gymnasium und häufiger in den niedriger qualifizierenden Schularten. Ausländische Jugendliche verlassen doppelt so häufig wie deutsche eine allgemeinbildende Schule, ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen, während deutsche dreimal so häufig die Hochschulreife erwerben. Während Jugendliche ohne Migrationshintergrund schon nach drei Monaten zur Hälfte bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz der dualen Ausbildung erfolgreich waren, erreichten Jugendliche mit Migrationshintergrund eine vergleichbare Vermittlungsquote erst nach 17 Monaten. Entsprechend sind allein schon 60% ausländische Jugendliche im Übergangssystem zu finden, deutsche zu 40%. Die Unterschiede haben sich im letzten Jahrzehnt vergrößert. […]
Geschlechtsspezifische Disparitäten: Mädchen und junge Frauen werden im Bildungssystem immer erfolgreicher, neue Problemlage bei den Jungen. Mädchen werden im Durchschnitt früher eingeschult, haben bessere Leistungen in der Schlüsselkompetenz „Lesen“, bleiben seltener ohne Schulabschluss, bewältigen erfolgreicher und schneller den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, absolvieren eine Ausbildung eher im anspruchsvolleren Segment der Berufsgruppen, erwerben deutlich häufiger die Hochschulreife, brechen ein Studium seltener ab, bilden die Mehrheit der Hochschulabsolventen und nutzen als Berufstätige die Angebote der Weiterbildung intensiver. Diese Erfolgsgeschichte der Mädchen und Frauen innerhalb des Bildungssystems bricht im Verlauf der Berufstätigkeit teilweise ab: Nach wie vor bestehen erhebliche Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen. [!] Parallel zu dieser Erfolgsgeschichte entwickelt sich eine neue Problemkonstellation: Das Risiko für Jungen und junge Männer, im Bildungssystem zu scheitern, nimmt zu. Das gilt insbesondere für jene mit Migrationshintergrund. Jungen wiederholen öfter eine Jahrgangsstufe, ihr Anteil unter den Absolventen und Abgängern mit und ohne Hauptschulabschluss nimmt zu und sie befinden sich deutlich öfter im Übergangssystem. […]
Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt rückläufig. Insgesamt, d.h. unter Einschluss betrieblicher und privater Leistungen, wurden in Deutschland im Jahr 2006 mit 142,9 Milliarden Euro fast 15 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgegeben als im Jahr 1995. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ging jedoch von 6,9% im Jahr 1995 auf 6,3% im Jahr 2005 und 6,2% im Jahr 2006 zurück; im internationalen Vergleich lag er unter dem OECD-Durchschnitt. Die Bildungsausgaben sind nicht proportional zum Wirtschaftswachstum gestiegen. […]
Weiterbildungsbudgets drastisch reduziert. Die Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit für berufliche Weiterbildung gingen zwischen 1999 und 2005 um etwa 70% zurück. Im gleichen Zeitraum sanken die Ausgaben der Unternehmen für betriebliche Weiterbildung um rund 1,5 Milliarden Euro (16%). […]

Also, mal die überraschenden Ergebnisse zusammengefasst:

  • Obwohl die Hauptschule nicht verändert wurde, bringt ihr Abschluss immer noch keinen realen Einstieg in den Arbeitsmarkt.
  • Obwohl eine strukturelle Förderung für Kinder aus bildungsschwächeren und ökonomisch schwierigen Haushalten weiterhin nicht existiert und obwohl die strukturelle Bevorzugung von Jugendlichen aus ökonomisch besser gestellten Haushalten und solchen mit hohem Bildungskapital im Bildungssystem weiter verankert ist, wirkt das Bildungssystem an sich segregierend und reproduziert soziale Unterschiede.
  • Obwohl die strukturelle Demotivation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sich nicht verändert hat, bringen Frauen ihre seit Jahren besseren Bildungsergebnisse immer noch bei Weitem nicht so viel, wie die tendenziell schelchteren Bildungsergebnisse den Männern etwas bringen.
  • Obwohl das Bafög immer noch nicht einmal annähernd zum Leben während des Studiums reicht und die Chancen, nach einem Studium verschuldet und ohne Arbeit dazustehen, weiterhin relativ hoch sind und obwohl es (noch) in der Hälfte der Bundesländer Studiengebühren gibt, hat sich die Zahl der Studierenden nicht erhöht.
  • Obwohl der Großteil der Weiterbildungspolitik daraus besteht, Menschen rhetorisch zum Weiterbilden aufzufordernd, ohne das irgendwie zu fördern, ohne einen klaren Nutzen von dieser Weiterbildung aufzeigen zu können, ohne für einen fairen Arbeitsmarkt für das Personal in der Weiterbildung zu sorgen, damit dieses von ihrer/seiner Tätigkeit auch ihr Leben finanzieren und langfristig planen kann und obwohl die Weiterbildungsförderung durch die Agentur für Arbeit weiter zurückgeht, stagniert die Weiterbildungsquote.

Und dann berichtet der Spiegel und – wortgleich – andere Medien auch noch von einer Studien, die zu dem Ergebniss kommt, dass betriebsinterne Konkurrenz den Druck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöht und das eine gute Bildung auf einem Arbeitsmarkt, der zuwenige Jobs für all die gut ausgebildeten Menschen hat, auch nichts bringt:

[…] Eine gute Bildung ist keineswegs eine Garantie dafür, dass sich die Beschäftigten in ihrem Beruf wohl fühlen. Im Gegenteil, schreibt Studienautor Martin: ‚Es kann leicht passieren, dass die durch den Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses geweckten Berufserwartungen angesichts der tatsächlich verfügbaren Stellenprofile bitter enttäuscht werden.‘
Mit anderen Worten: Politik und Wirtschaft fordern die Bürger immer wieder auf, sich zu qualifizieren. Doch auf dem Arbeitsmarkt haben die Menschen nicht unbedingt etwas davon – einfach deshalb, weil es keine passenden Jobs gibt.
[So unzufrieden sind Deutschlands Arbeitnehmer, Spiegel-Online, 13.06.2008]

Ja, mit großer Spannung erwarte ich weitere Ergebnisse. Was wird wohl noch festgestellt werden?

  • Manche Menschen planen gar nicht, was ihnen ein Bildungsgang auf dem Arbeitsmarkt „bringt“, bevor sie ihn beginnen?
  • Obwohl Menschen mit Migrationshintergrund Deutsch sprechen, besser als manche Landespolitikerinnen und -politiker, hilft ihnen das auf einem rassistisch geprägten Arbeitsmarkt auch nicht weiter?
  • Manche Menschen wollen mit Bildung nichts mehr zu tun haben, obwohl ihnen Bildung auf dem Arbeitsmarkt auch überhaupt nichts bringt?
  • In Bibliotheken stehen auch Bücher?
  • Dieses „Internet“ ist gar kein Mythos von amerikanischen Sekten, sondern soll tatsächlich irgendwo existieren?
  • Bildungsreformen, egal welche, kosten Geld?
  • Bibliotheken brauchen eine Erwerbungsetat?
  • Weiterbildungseinrichtungen brauchen eine ausreichenden Etat?
  • Das Personal in der Weiterbildung möchte tatsächlich Geld verdienen und nicht auf prekäre Taschengeld-Jobs angewiesen sein? Ansonsten sucht es sich einen anderen Job?
  • Die Welt ist annähernd rund?
  • Bildung könnte auch andere Effekte haben, als nur eine bessere Position auf dem Arbeitsmarkt einzunehmen? Irgendwas mit Lebensqualität, Demokratie, Selbstbestimmung?
  • Obwohl im Bundestag lauter Juristinnen und Juristen sitzen, ist das nicht der bevorzugte Studiengang der deutschen Bevölkerung?
  • Manche Vorhersagen der Wirtschaft, sie benötige mehr Menschen mit dieser oder jener Ausbildung, sind schon nach einigen Monaten überholt?
  • Die vorrangige Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler bringt leistungsschwächern Lernenden unter Umständen nicht allzu viel?
  • Manche Menschen mit Bildungsabschluss denken darüber nach, dass sie mit diesem außerhalb Deutschland eventuell mehr anfangen könnten?
  • Manchmal macht Bildung Spass, manchmal ist es nervig?
  • Einige von denen, die studieren, wollen lieber anschließend „Wissenschaft“ machen? Und von denen wollen noch nicht mal alle unbedingt eine Professur haben?
  • Gymnasien erhalten mehr Geld und Unterstützung, als andere Schultypen?

Man darf gespannt sein. Ein Hoch auf die empirsche Wende in der Bildungsforschung.

Persönliche Daten unkontrolliert raushauen: ein Mythos der Informationsgesellschaft?

Jedes neue Medium bringt seine Kritik mit sich. Als Romane populär wurden, ging in gebildeten Kreisen die Angst um, dass nun Frauen ihr Tagwerk vergessen und sich aus der Realität flüchten würden. Als das Fernsehen sich nach dem zweiten Weltkrieg etablierte, ging die Vorstellung um, dass die Menschen zu antisozialen Zombies würden, die vollkommen unkommunikativ auf die Bildschirme starren würden. Auch das Radio wurde als Werkzeug verstanden, welches die Massen zur kulturellen Eintönigkeit erziehen würde. Computerspiele, Computer an sich, elektronische Tanzmusik und elekronische Mittel zur Musikproduktion: regelmäßig fand sich eine Kritik, die vor der unkontrollierten Nutzung der jeweils neuen Medien warnte.
Und diese Warnungen wurden nicht nur von den Kreisen vertreten, die heute als populistisch bezeichnet würden, sondern immer auch von Menschen, die sich intensiv mit der Gesellschaft beschäftigten und mitnichten der einfachen Angst vor dem Neuen bezichtigt werden konnten. Zudem gab es gegen diese Kritik auch immer wieder Utopien, welche die Potentiale der jeweiligen Medien hervorhoben. Und letztlich hatten immer beide Richtungen Unrecht, weil sich die Etablierung der neuen Medien noch ganz anders vollzog.
Beim Radio gibt es das bekannte Beispiel der – in dieser Frage – Antipoden Adorno und Brecht. Adorno verstand das Radio und insbesondere den damals aktuelle Jazz (der bei Adorno für zeitgenössische populäre Musik steht) als geschmacksvereinheitlichend, als kulturelles Abbild des Fordismus, letztlich als entfremdende Kulturindustrie. Brecht entdeckte in seiner Radiotheorie hingegen die Potentiale des Radios als demokratisierendes Medium. Und unbestreitbar waren beide linke Intellektuelle, die von der Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft überzeugt waren, keine bedingungslosen Verteidiger hergebrachter Kultur. [Obwohl Adorno bekanntlich nach der Shoa kein Zutrauen zum Proletariat hatte, während Brecht zumindest offiziell überzeugt von dessen revolutionären Aufgabe war.] Und das Radio heute? Nun ja… aber zwischendurch hatten beide Unrecht. Es gab auch gutes Radio.

2008: Nachdem nun allgemein akzeptiert zu sein scheint, dass das Internet existiert und das dort auch etwas anderes zu finden ist, als Pornographie und Nazis und kaum noch Geschichten von seelenlosen Kinder und Nerds erzählt werden, die ihre Realität im Internet verlohren hätten, hat sich in den letzten Jahren eine weitere Kritikströmung etabliert, die auf eine reale Gefahr aufmerksam macht. Insbesondere Web2.0-Angebote würden – so die Kritik – zu einem sinkenden privaten Datenschutzbewußtsein führen.
Diese Kritik ist teilweise verbunden mit nicht einfach zu widerlegenden Hinweisen auf die Tendenz zu immer größeren Datensammlungen durch Firmen (Stichwort: gläsener Kunde) und Behörden (polemisches Stichwort: Stasi2.0). Ansonsten hat sich Einschätzung weitgehend etabliert, dass Menschen in Zeiten des Web2.0 immer mehr dazu tendiert würden, ihre persönlichen Daten unkontrolliert zu verbreiten und für einen geringen Bonus – zum Beispiel für Payback-Karten – an Firmen abzugeben. Daneben finden sich in unzähligen Medien Geschichten über Menschen, die ihre Jobs verliehren, weil irgendwo im Netz ihre Partyphotos auftauchen. Oder die wegen ihrer Internetpräsenz erst gar nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden.[1] An einem solchen Verhalten – so die Kritik weiter – würden auch alle Versuche, ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung durchzusetzen, letztlich scheitern. Die Menschen würden ja noch nicht mal die heute schon gegebenen Möglichkeiten des Datenschutzes nutzen.

Aber stimmt das überhaupt? Oder ist diese Kritik nicht zumindest zum Teil, so wie hier dargestellt, ein Wiedergänger der Kritik, welche allen Neuen Medien anhaftet, quasi die zeitgenössische Form der adornischen Kritik?
Es gibt zumindest Hinweise, obwohl die empirische Basis gering ist, was allerdings auch für die Kritik zu konstatieren ist. Zumindest findet sich in der neuen Ausgabe der WZB-Mitteilungen der Artikel Kein Ende der Privatheit: Auch jungen Internetnutzern ist Datenschutz wichtig von Andreas Busch. Der Titel fasst die Ergebnisse des Textes auch schon zusammen. Busch greift dabei auf einige Geschichten aus Sozialen Netzwerken und die Ergebnisse zweier repräsentativer Umfragen der Europäischen Union zum Datenschutzinteresse unterschiedlicher Altersgruppen zurück. Letztlich kommt er zu folgendem – in Anbetracht der Entwicklung der heute schon längst etablierten Medien – nicht sonderlich überraschenden Schluss:

„Im selben Maße, wie alte Normen und Regeln im Kommunikationsverhalten verschwinden, entstehen neue. Dieser Prozess ist weder so radikal, noch wird er von den Generationen so unterschiedlich wahrgenommen, wie die [im Text zuvor, K.S.] zitierten Medien nahelegen. Er sollte vielmehr als gesellschaftlicher Lernprozess begriffen werden: Das Internet ist ein vergleichsweise neues Medium und bietet noch ungewohnte Möglichkeiten des Austauschs. Die Unerfahrenheit im Umgang damit dürfte mit der Zeit verschwinden – und zwar bei allen Nutzern, egal ob sie alt oder jung sind.“
[Busch, Andreas (2008) / Kein Ende der Privatheit : Auch jungen Internetnutzern ist Datenschutz wichtig. – In: WZB-Mitteilungen 120/Juni 2008, S. 26-29]

Na denn.

[1] Interessanterweise scheinen die größten Probleme für Menschen bislang durch die Datensammlungen der Schufa zu entstehen. Diese steht allerdings schon länger in der Kritik, weil man die Sammlung und Verwendung seiner Daten bei der Schufa überhaupt nicht beeinflussen kann.

Noch einmal Netbooks und Gesellschaft

Letztens diskutierte ich kurz die Trends auf dem Laptopmarkt, bzw. die Etablierung der Kategorie der Netbooks in den letzten Monaten. Ben Kaden schloss in einem Beitrag im IBI-Blog daran an und wies vollkommen berechtigt auf das Problem der Umweltverschmutzung [nennen wir es doch einfach mal beim Namen] hin. In der aktuellen First Monday diskutiert nun Brendan Luyt den XO des One Laptop Per Child projects, welcher als Initialprojekt für den Trend zum Netbook angesehen wird. Dabei geht er hauptsächlich auf die technischen Innovationsprozesse, die der XO angestossen hat und den pädagogischen Anspruch des Projektes ein.
Leider bezieht Luyt noch nicht das aktuelle Projekt des XO-2 ein [der allerdings anderswo vorgestellt und diskutiert wird: hier, hier, hier und hier], welcher meineserachtens durch seine Anlehnung ans Buch und seinen Verzicht auf eine statische Tastatur interessante Ansätze verfolgt, die auch den „Normalnutzenden“ klarmachen werden, dass die aktuell vorherschenden Formen Tower-Tastatur-Bildschirm oder Laptop-mit-Hochklappen-des-Bildschirms nur zwei mögliche Modelle für Computer sind und die Entwicklung von Rechnern (und Software) freier verlaufen könnte. Der Vorteil solcher Erkenntnis könnte sein, dass mehr Nutzenden ihre Rechner als Maschinen begreifen, die sie unterstützen sollen und nicht als Übergeräte, die diktaorisch nur machen, was sie wollen und die man lieber nicht bei ihren Kreisen stört. Und das wiederum könnte sich auf die Nachfrage nach unterschiedlichen Rechnermodellen niederschlagen. [Die Tablet-PCs alleine haben ja noch nicht zu einer solchen Freiheit in der alltäglichen Computernutzung geführt.]
Interessant ist an Luyts Text, das er den XO im Rahmen eines sich verändernden Kapitalismus situiert. Der Kapitalismus entwickelt sich laut Luyt einerseits in Richtung eines Netzwerk-Kapitalismus, in welchem der Kommunikation als Aktivität eine bedeutende Rolle im Produktions- und Distributionsprozess zukommt und nicht nur die Berufsbiographien, sondern auch die Produktionsprozesse projektförmiger und prekärer werden. Gleichzeitig entsteht im Rahmen dieses neuen Kapitalismus ein Freiraum für soziale Aktivitäten, die global ausgerichtet sind, zumeist von Teilen der (intellektuellen und ökonomischen) Elite der ersten Welt ausgehen und in Form von Non-Profit-Organisationen durchgeführt werden. Der XO beziehungsweise die One Laptop Per Child Foundation und dessen explizit am Lernen neuer Technologien und kollaborativer Spiel- und Arbeitsweisen orientierten Anforderungen an Hard- und Software sind für Luyt ein Beispiel für die Transformation des globalen ökonomischen und gesellschaftlichen Systems.
Luyt geht auf diese Transformationsprozesse nur kurz ein. Aber seine Ausführungen lassen sich in einen größeren Zusammenhang mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Trend stellen, der genau diese beiden Entwicklung – Netzwerk-Kapitalismus und Trend zum globalen Engagement neuer NGOs – in den Blick nimmt. [Hierzu sind Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Ève Chiapello, Die Moralisierung der Märkte von Nico Stehr, aber auch der Überblicksartikel Globale Wohltäter: Die neuen Weltbürger und ihr Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel von Tine Stein in der März-Ausgabe der WZB-Mitteilungen zu zählen. Bekannte NGOs, die sich diesem Trend zuordnen lassen, sind neben der One Laptop Per Child Foundation (Spin Off des MIT Media Lab), Room to Read (von einem Microsoft-Manager gegründet und geleitet), die Bill & Melinda Gates Foundation (DEM Bill Gates), das Open Society Institute (George Soros), aber auch Linux und die Linux-Foundation, die immer noch von einigen Millionären und gut verdienden Programmiern aus der Ersten Welt (USA, Finnland, Kanada) domiert wird und bei dem gleichzeitig vom bislang größten Wissenstransfer aus der Ersten in die restlichen Welt gesprochen wird.]

Was – um darauf noch einmal zurückzukommen – Luyt zeigt, ist dass der XO kein Spielzeug ist [1], dass man einfach ignorieren kann, sondern ein kulturelles Artefakt, in dem gesellschaftliche Trends der Mediennutzung, der sich veränderndern Produktionsverhältnisse und des globalen Denkens einen Ausdruck gefunden haben. Der XO überschreitet dabei auch eine Grenze, die gerne noch in Bezug auf die Computernutzung im Bildungsalltag gezogen wird: der Rechner selber ist Objekt des Spielen und Lernens, nicht mehr nur Maschine für Lernsoftware, die man irgendwie steuern könnte [z.B. indem man vorrangig pädagogische Spielen in einem Bibliotheksbestand aufnimmt]. Dem werden sich weder Bildungseinrichtungen noch Bibliotheken entziehen können, einfach weil dies Trends sind, die weit über die Mediennutzung allein hinausgehen. Es geht um die Etablierung einer neuen Wahrnehmungswelt, was nicht unbedingt schlecht sein muss. [Einen ähnlichen Einfluss hatte die Etablierung von Zeitschriften als Alltagsgegenstand, des Radios und des Fernsehens.]
Und dabei geht es nicht einmal primär um Marketing-Fragen, „Wie uns andere sehen“ oder darum, ob und wie Bibliotheken „cool“ werden können. Es geht darum, dass die Gesellschaft nach und nach aus Menschen bestehen wird, für die die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien zum Alltag gehört, die mit diesen ihre Arbeit und Freizeit gestalten, das Kommunizieren über unterschiedliche Internet-Dienste und die Verfügung über große Informationsmengen als selbstverständlich erleben. Das wird seine Zeit brauchen, die Menschen werden diese Medien unterschiedlich und unterschiedlich kompetent nutzen, viele Menschen werden bestimmte Medien oder Web-Angebote gar nicht oder nur für eine bestimmte Zeit ihres Lebens nutzen. Hypes werden vorübergehen, aber der gesellschaftliche Trend wird trotzdem stattfinden. Und diese Leute – und nicht die Leserinnen und Leser aus der Zeit, indem Fernsehen, Zeitschriften und Bücher den Medienalltag bestimmten – werden dann in Bibliotheken kommen und diese ihren Anforderungen folgend nutzen wollen. Und das ist der Grund, warum Bibliotheken sich mit diesen Rechnern und den mit diesen einhergehenden Trends auseinander setzen müssen.

[1] Trotzdem ist er ein unglaublich heftiges Spielzeug der Kategorie unbedingt-haben-wollen.

Was wird das Bildungspanel bringen?

Es kündigt sich langsam an, dass in nicht allzuferner Zeit in Deutschland ein Bildungspanel aufgebaut werden könnte. Die ersten Hinweise hierzu fanden sich schon 2004 in dem Grundlagenbericht „Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter“ der Reihe Bildungsreform des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Und zwar im abschließenden Kapitel „Bausteine einer Konzeption für einen Nationalen Bildungsbericht“, These 9, auf Seite 353. Oder mit anderen Worten: ganz hinten versteckt, zudem in einem Bericht, der unter einer Regierung Schröder (beziehungsweise Ministerin Bulmahn) in Auftrag gegeben wurde, obwohl er dann unter der Regierung Merkel (beziehungsweise Ministerin Schavan) veröffentlicht wurde. Oder noch anders ausgedrückt: dass hätte auch das letzte Mal sein können, dass man von einem Bildungspanel liesst.

Ein Bildungspanel hat den unschätzbaren Vorzug, dass damit Betrachtungsperspektiven quer zu den Institutionen und entlang der jeweiligen Bildungsbiographien in den Blick genommen und miteinander verbunden werden können. Mit einem Bildungspanel können objektive Bedingungen (Lebenslagen, Bildungsinstitutionen und angebote) und subjektive Dimensionen (Sichtweisen, Einstellungen, Nutzungsverhalten) erfasst und miteinander in Bezug gesetzt werden. Einflüsse von Institutionen auf Bildungsverläufe, Übergangsprozesse zwischen den Systemen und subjektive Wahrnehmungen und Strategien können auf diese Weise genauer analysiert werden. Auf dieser Basis könnten erstmals in Deutschland differenzierte Untersuchungen zum Zusammenhang von Prozessqualität und Wirkungen, zum Zusammenhang von formaler, non-formaler und informeller Bildung sowie zu Bildungsverläufen differenziert nach sozioökonomischen, geschlechtsspezifischen, ethnisch-kulturellen und regionalen Faktoren durchgeführt werden. Mit einem Bildungspanel ist es insbesondere möglich, Informationen über Bildungsbiographien von benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu gewinnen. Damit könnte eine Datenbasis für eine Bildungsberichterstattung aufgebaut werden, die sich von vorneherein nicht mit einer Systemberichterstattung begnügt. Ein entsprechendes Panel müsste dabei in einem Zusammenspiel von haushaltsbezogenen Individualdaten und darauf bezogenen institutionellen Strukturdaten aufgebaut werden, um auf diese Weise das Zusammenspiel von Lebenslagen, subjektiver Lebensführung und institutioneller Angebotsseite mit Blick auf die erzielten Wirkungen bei Bildungsprozessen beobachten und erklären zu können.
[Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter, Seite 354]

Vom SOEP zum Bildungspanel
Das Bildungspanel, wie es in dieser These vorgeschlagen wurde, soll sich am Soziooekonomischen Panel [SOEP] anlehnen. Das SOEP sammelt seit 1984 in jährlichen Befragungen von jetzt über 12.000 Haushalten in Deutschland Daten über die sozialen, ökonomischen und auch gesundheitlichen Umstände. Dabei ist das Panel als Sammlung von Lebenslaufstudien angelegt und arbeitet mit Wiederholungsbefragungen. Das heißt, dass ein Haushalt jährlich befragt wird [solange das die Befragten mitmachen] und auch die Haushalte, die sich aus diesen befragten Haushalten entwickeln mit in die Befragung einbezogen werden. Also, die Kinder, die aus einem befragten Haushaltes ausziehen, werden im Rahmen der von ihnen begründeten Haushalte mit einbezogen, bzw. wenn ein Haushalt wegen der Trennung von Ehen oder Lebenspartnerschaften aufgelöst wird, werden auch diese neuen Haushalte mit befragt.
Dabei wird immer wieder versucht mithilfe von Ergänzungsstichproben ein differenzierteres Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Eine der größten Stichproben wurde beispielsweise 1990 in den neuen Bundesländern gezogen.
Die Daten dieser fortlaufenden Befragungen können in der Sozialwissenschaft unterschiedlich verwendet werden, man darf sogar selber ein wenig damit „spielen“. Für den Fall einer eigenen Forschung ist es sogar möglich, solange man sich an den – allerdings bei dieser Methode auch dringend notwendigen – Datenschutz hält, auch auf die gesamten Daten zuzugreifen. Der Vorteil ist ersichtlich: durch die fortwährende Befragung einer großen Zahl immer wieder gleicher Haushalte liefert der SOEP nicht nur Daten zur aktuellen Situation in der Gesellschaft, sondern auch für eine große Anzahl von Lebensläufen. So lassen sich auf der Ebene von Mikrostudien und Makrostudien Zusammenhänge überprüfen, beispielsweise dazu wie sich die Vererbung ökonomischen und sozialen Kapitals auf der Ebene von Haushalten realisiert. Immerhin 3499 Publikationen, welche auf den Daten des SOEP basieren, werden in der Datenbank des Projektes aufgeführt [Stand: 05.06.2008, gegen 1:00]. Obwohl die Politik zur Zeit lieber die – wohl einfacher zu verstehenden – Sinus-Milieus bevorzugt, ist das SOEP immer noch die unangefochten wichtigste Datenbasis über die deutsche Gesellschaft. [Daneben gibt es noch den Mikrozensus, der allerdings immer mit dem Problem zu kämpfen hat, dass er die Antworten quasi erzwingt, während die Teilnahme am SOEP freiwillig ist.]
Ein Problem des SOEP ist, dass die Umfragen und Datenauswertungen von jemand [genauer: TNS Infratest] durchgeführt werden und dies bezahlt werden muss.

Der Vorschlag für ein Bildungspanel lautet nun im Großen und Ganzen, eine ähnlich breite Datensammlung zum Thema Bildung aufzubauen. Im Rahmen der Debatten um Lebenslanges Lernen ist das nachvollziehbar. Wenn in großem Maße dem Bereich der formellen Bildung [Schule, Berufsausbildung, Hochschule, teilweise Kita] zugeschrieben wird, hauptsächlich die Grundlagen für Bildungsprozesse im non-formellen [organisierte Weiterbildung, institutionalisierte Lerngruppen, Führerschein] und informellen [selbstständig organisierte Bildungsprozesse] Bildungsbereiche zu vermitteln und gleichzeitig beständig davon ausgegangen wird, dass Bildung außerhalb, bzw. nach der formellen Bildungssystem zur grundlegenden Ressource der Gesellschaft wird [1], ist es nur nachvollziehbar, dass eine Untersuchung dieser Bildungsprozesse nur mithilfe von Lebenslaufstudien sinnvoll ist. Momentaufnahmen, wie sie beispielsweise das Berichtssystem Weiterbildung bieten, sind nur bedingt geeignet, um tatsächliche Bildungsmotivationen, Bildungsprojekte und die Wirkung von Bildungsprojekten zu erfassen und in einem größeren gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Entweder konzentrieren sich die Studien auf erfassbare Daten [Teilnahmezahlen von Bildungsveranstaltungen, formelle Zertifikate], welche allerdings die reale Situation in Bildungsprojekten nur ansatzweise darstellen und informelle Bildungsprojekte gar nicht erfassen können. Oder aber die Studien basieren auf intensiven Interviews mit den untersuchten Personen und sind deshalb – wegen der geringen Fallzahl und Problemen bei der Auswahl der Befragten – im Hinblick auf die Repräsentativität der Ergebnisse fragwürdig. [2] Eine breit angelegte Folgebefragung würde die Vorteile beider Ansätze verbinden: qualitativer Zugriff und eine große Fallzahl.
Nicht zu vergessen die mögliche Nachverfolgung des Lebenslaufs und damit die Möglichkeit, den tatsächlichen langfristigen Effekt von Bildungsprozessen zu überprüfen. Dieser wird bislang zumeist als Bildungsdividende ausgedrückt, also im ökonomischen Gewinn einer Bildungsaktivität – z.B. soundsoviel hat ein Studium gekostet [Kosten + entgangener Lohn], soundsoviel Lohn erhält man nach dem Studium in seinem Leben, die Differenz lässt sich berechnee, dass ist die Dividende. Dem wird allerdings immer wieder entgegengehalten, dass sich der Gewinn einer Bildungsaktivität nicht auf die Lohnhöhe beschränken liesse. Beispielsweise können Bildung auch zum Selbstbestätigung, zur erhöhten Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und auch nur zu Spass führen. [3] Mit einem Bildungspanel wäre es möglich, solche nicht-ökonomischen Dividenden nachzuvollziehen oder auch herauszufinden, dass es sie unter Umständen nicht gibt.
Das wäre dann unbestreitbar ein weiterer Schritt im Rahmen der empirischen Wende der Erziehungswissenschaft.

Das Panel lebt
Obwohl es wohl kaum jemand auffallen würde, wenn die Idee des Panels einfach verschwunden wäre, gibt es offenbar doch Arbeiten, das Bildungspanel weiterzutreiben. Prof. Dr. Hans-Peter Blossfeld von der Universität Bamberg zeichnet für einen DFG-Antrag „Nationales Bildungspanel (National Educational Panel Study – NEPS) in Deutschland“ als Principal Investigator. Das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt führt Prof. Dr. Blossfeld als Koordinator des Projektes Berufliche Bildung und Übergänge in den Arbeitsmarkt – Bildungsetappe 5 des Nationalen Bildungspanels von Deutschland/NEPS. Die DFG bezog sich in einer Presseerklärung zur Jahresversammlung 2007 auf ein solches Panel. Das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung lud 2007 zu einem Treffen über das NEPS. Bei der Uni Bamberg[bei der Prof. Dr. Blossfeld lehrt] findet sich ein eigener Abschnitt zum Bildungspanel beim Lehrstuhls für Elementar- und Familienpädagogik.
In seinem aktuellen Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung [online Seite 10, in der auch gedruckten Version Seite 15] bekennt sich das Bildungsministerium für Bildung ung Forschung zu einem solchen Panel. In der kurzen Pressemitteilung zum Rahmenprogramm nimmt das Panel eine wichtigen Platz ein. Im Sammelband Kindliche Kompetenzen im Elementarbereich: Förderbarkeit, Bedeutung und Messung der Reihe Bildungsforschung des Bildungsministeriums fordern Hans-Günther Roßbach und Sabine Weinert von der [man glaubt es ja fast nicht] Universität Bamberg [der Universität von Prof. Dr. Blossfeld] in ihrem Vorwort ebenfalls ein solches Panel. [4]

Was wird das Panel?
All das sind Hinweise darauf, dass ein Bildungspanel tatsächlich einmal eingeführt und finanziert werden könnte. Oder aber es bleibt ein Projekt von Prof. Dr. Blossfeld und seinen Forschungskontakten. Wer die Geschichte der große diskutierten Projekten in der deutschen Bildungspolitik kennt, weiß, dass dies trotz aller Vorteile, die ein solches Panel haben könnte, kein unrealistisches Szenario ist. Oft schon sind weitgediehene Projekte einfach abgesagt und vergessen worden.
Es ist allerdings heute schwierig zu sagen, wie das Panel aussehen wird. Das Bildungsministerium bleibt eher uneindeutig, was genau in diesem Panel auf welche Weise bei wievielen Menschen erfragt werden soll. Allerdings scheint eine Richtung schon vorgeben:

Fragestellungen, die mit einem Panel bearbeitet werden können, sind u.a.

  • die Analyse von Kompetenzentwicklung im Lebenslauf innerhalb wie außerhalb von Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen sowie mit Bezug auf familiäre, soziale und gesellschaftliche Kontexte,
  • die Analyse von Bildungsentscheidungen und Bildungsprozessen bei kritischen Übergängen,
  • die Relevanz spezifischer Kompetenzen für Ausbildungs- und Berufserfolg,
  • die Leistungen von Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, gemessen am Erfolg ihrer Absolvent/-innen,
  • Bedingungen für Erfolg bzw. Misserfolg im Studium und auf wissenschaftlichen wie beruflichen Karrierewegen,
  • Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für unterschiedliche „Pfade“ im Bereich von beruflicher Bildung und Ausbildung bis zu einem erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben,
  • die „Verlinkung“ von Zugängen zu Weiterbildung/lebenslangem Lernen mit Beschäftigungskarrieren unterschiedlicher Art.

[BMBF: Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung, Seite 10]

Es geht offenbar vorrangig oder vielleicht auch einzig um den Einfluss von Bildung für das Berufsleben. Zumindest erscheinen solche Themen wie demokratische Teilhabe, Selbstbewußtsein, Gesundheit etc. im Zusammenhang mit dem Panel nirgends.
Ein Bildungspanel hätte die Möglichkeit, ein breites Spektrum von Bildungseffekten und Motivationen zu oder gegen Bildungsprozesse zu untersuchen. Wenn es aber von Beginn an auf die berufliche Sphäre zugeschnitten wird, wird dies auch die Richtung der empirischen Bildungsforschung in Deutschland vorgeben. Schließlich werden das die Daten sein, auf die sich viele Untersuchungen stützen werden. Was nicht erfragt wurde, wird mit diesem Daten einfach nicht thematisiert werden zu können. Dabei muss man bedenken, dass es sich bei der empirischen Bildungsforschung nicht nur um eine wissenschaftliche Diskussion handelt, sondern um einen Wissenschaftszweig, von dem die Politik aktuell Handlungswissen fordert. Eine einseitige Fokussierung würde also auch einen direkten Einfluss auf die Themen haben, welche in der Bildungspolitik verhandelt werden. Und gerade deshalb ist es auch fragwürdig, warum offenbar seit einigen Jahren an einem solchen Instrument gearbeit wird, aber kaum etwas von ihm bekannt gemacht wird. Ach, sagen wir es doch offen: ein politischer Skandal. Immerhin wird dieses Projekt gesellschaftliche Auswirkungen haben, deshalb gehört es auch gesellschaftlich debattiert und nicht einfach nur zwischen der einem Fachbereich der Universität Bamberg und dem Bildungsministerium ausgehandelt.

Abgesehen davon würde ein gut geplantes Bildungspanel auch die Möglichkeit bieten, nicht nur formelle Bildungsprozesse zu untersuchen, sondern auch den Einfluss informeller Bildungsorte zu erfassen. Dazu könnten auch Bibliotheken zählen. Bislang ist es einfach nicht möglich zu sagen, ob tatsächlich viele Menschen Bibliotheken als Einrichtungen nutzen, die Bildungsprozesse unterstützen oder als gar als eigenständige Bildungsorte ansehen. Oder ob die Geschichten von Menschen, die sich mithilfe von Bibliotheken „hinauflesen“ nur Einzelfälle darstellen. Ein Bildungspanel könnte hier verwendbare Daten liefern. Genauso wie er ähnliche Daten für Museen, Jugendklubs, Seniorinnen- und Seniorenfreizeiteinrichtungen oder Galerien liefern könnte.
Und das ist auch der Grund, weshalb sich bibliothekarische Verbände recht bald um dieses Bildungspanel kümmern sollten. Jetzt scheint es noch in der Planungsphase zu sein. Ein Anstoß von Seiten der Bibliotheken könnte dazu führen, dass erstens der Fokus von der reinen berufsbezogenen Bildung verschoben wird auf eine breitere Funktionsbestimmung von Bildung – wobei die berufliche Bildung ein wichtiger Teilbereich sein muss -, zweitens das Bildungspanel überhaupt gesellschaftlich thematisiert wird [5] und drittens Bibliotheken als mögliche Bildungsorte mit in die Befragungen aufgenommen werden, welche wohl die Grundlage dieses Panels darstellen werden. [6]

Fußnoten
[1] Wobei die Betonung auf „davon ausgegangen wird“ liegt. So sicher, wie das gerne behauptet wird, ist dies nicht. Bzw. bislang wird zumeist davon ausgegangen, dass es die Entwicklung im beruflichen Bereich sei, die immer weitere Bildung der Individuen erfordern und dass deshalb die Produktivität der Gesellschaft darunter leiden würde, wenn nicht von den Individuen beständig weitergelernt würde. Und ob dies richtig ist oder ob nicht vielmehr die immer bessere Bildung der Arbeitnehmenden die Entwicklung von Arbeitsplätzen und intellektuellen Herausforderungen im Berufsalltag vorangetrieben hat, ist nicht so einfach zu klären, wie es auf den ersten Blick scheint. Vgl. zu dieser Frage den viel zu selten beachteten Aufsatz: Nico Stehr (2003) / Das Produktivitätsparadox. – In: Böschen, Stefan ; Schulz-Schaeffer [Hrsg.] / Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. – Wiesbaden : Westdeutscher Verlag, 2003, S. 77-93. Allerdings ist das nicht wirklich schlimm, da eine höhere Bildung auch zu einem höheren Handlungswissen und Selbstbewußtsein der Individuen – oder anders gesprochen: zur Demokratisierung – führt, selbst falls es keinen so großen ökonomischen Einfluss der Ökonomie auf die Bildungsanforderungen an die Individuen gibt. Vgl. zu diesem Themenkomplex zwei weitere Werke von Stehr: Stehr, Nico (2000) / Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. – Weilerswist : Velbrück Wissenschaft, 2000 und Stehr, Nico (2007) / Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie. – Suhrkamp : Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2007.
[2] Das ist ein weiterer Punkt im alten Widerstreit über die Vorzüge und Nachteile quantitativen und qualitativer Forschungsmethoden.
[3] Letzteres wird zumindest behauptet. Wer weiss … vielleicht von Menschen, die „pädagogisch wertvolle“ Bücher schreiben oder Spiele programmieren.
[4] Irgendwann wird man bei einer solchen Häufung wohl vorsichtig. Prof. Dr. Blossfeld ist auch Mitglied des Aktionsrat Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. Vgl. zu diesem Aktionsrat auch den Artikel „Das Bildungssystem ist nicht unternehmensförmig genug“ der GEW.
[5] Dafür zu sorgen, dass gesellschaftlich relevante Informationen „befreit“, verbreitet und diskutiert werden, sollte eigentlich zum bibliothekarischen Ethos gehören, auch wenn dies eher in der USA als in deutschen Debatten thematisiert wird.
[6] Eine Erfahrung aus dem SOEP ist, dass die Einführung neuer Fragen zwar prinzipiell möglich, aber immer ein langer und schwieriger Prozess ist, der auch nicht immer erfolgreich sein muss. Schließlich ist das SOEP und das geplante Bildungspanel auf eine kontinuierliche Gewinnung von Daten ausgelegt. Es können nur eine bestimmte Anzahl von Fragen in den Interviewkatalog aufgenommen werden – schließlich ist Interviewzeit immer begrenzt und zudem bedeutet die Erfassung eines weiteren Items immer auch, dass dieses Item zusätzlich bei der Dateneingabe aufgenommen werden muss, was Arbeitszeit kostet -; ein Austausch von Fragen bricht immer eine Datenreihe ab. Deshalb ist es weit einfacher, sein Interesse bei der Konzeption solcher Panels anzumelden und nicht erst, wenn sie schon laufen.