Afzal Waseem beschäftigt sich in seinem Artikel „Community, Identity, and Knowledge: A Conceptual Framework for LIS Research“ in der aktuellen Ausgabe der libres vorrangig mit der Frage, welche Bedeutung Informationsprozesse für Communities haben können, bzw. welchen Zugriff die Library and Information Science [LIS] auf dieses Thema hat. Seine grundsätzliche Argumention lautet, dass Communities als soziale Gebilde einen jeweils eigenen Entstehungsprozess hinter [und auch vor] sich haben und das die LIS, wenn sie am Themenbereich Informationsprozesse und Communities interessiert ist, sich auch mit diesen Entstehungsprozessen beschäftigen muss. Anstatt allerdings ein eigenes Forschungsprojekt vorzustellen, beschäftigt sich Waseem grundsätzlicher mit den Möglichkeiten der LIS.
Vorwurf: Methodischer Gemischtwarenladen
Dabei referiert er die im englischsprachigen Raum mehrfach geäußerte Kritik an der LIS, eine große Breite an methodischen Ansätzen zu benutzen, diese allerdings relativ unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen, ohne das die einzelnen Forschungen großen Einfluss auf andere Forschungsprozesse hätten. Zusätzlich, so die Kritik an der LIS, gehe diese übergroße methodische Vielfalt mit einer Stagnation oder auch – je nach der Härte der Kritik – dem Nichtvorhandensein einer Theorieproduktion einher. Die LIS erscheint in dieser Betrachtungsweise als Ort der Produktion von immer wieder neuen, aber unverbunden und relativ unbeeinflusst voneinander existierenden Arbeiten.
Exkurs: Outputorientierte Wissensproduktion statt Wahrheitssuche
Interessanterweise findet sich eine ähnliche Kritik an der Wissenschaftspraxis in verschiedenen Geisteswissenschaften in den letzten Jahren immer öfter. Im Februar 2008 passierte dies beispielsweise im Wissenschaftszentrum Berlin auf einer zweitägigen Tagung für die Sozialwissenschaft. Dort wurde unter anderem kritisiert, dass die aktuelle akademische Ausbildung und Publikationspraxis dazu führen würde, viel zu viel Wert auf die jeweils richtige Anwendung methodischer Ansätze zu legen und viel zu wenig darauf, einen vorwärtsweisenden wissenschaftlichen Diskurs zu motivieren. Es gehe gerade jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zu sehr darum, jeweils erlernte Methoden an möglichst vielen Beispielen in möglichst hoher Zahl anzuwenden und nicht darum, einem wissenschaftlichen Programm zu folgen. Dabei würde die checklisthafte Prüfung von Artikeln bei Zeitschriften – also praktisch die Abfrage von Punkten: Gibt es eine Frage? Eine Methode? Eine Literaturdarstellung? Eine Diskussion der Ergebnisse? Dann ist das ein wissenschaftlicher Artikel, sonst nicht -, die Konzentration auf möglichst lange Literaturlisten bei der Bewertung wissenschaftlichen Personals, insbesonder bei Neueinstellungen, und die Bachelorisierung des Studiums, die darauf hinauslaufen würde, nur noch Überblickswissen vermitteln zu können; dazu führen, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele Forschungsprojekte durchführen zu können. Deshalb würde sich in der aktuellen Forschung auf möglichst einfach anzuwendende Methoden konzentriert und im Umkehrschluss würden gerade elaborierte Methoden, welche zu wirklich neuen Erkenntnissen führen könnten, vernachlässigt. (Als die einfachste Methode, welche „Sie auch dem beschränktesten Studierenden innerhalb von vier Wochen beibringen können“ – so sinngerecht Jürgen Kaube – galt bei dieser Tagung der rational choice Ansatz, als schwierigste die Luhmannsche Systemtheorie.)
Mit einem gewissen Schwermut wurde bei der Tagung daran erinnert, wie sich früher in der Sozialwissenschaft unterschiedliche Schulen gegenüberstanden, dies auf den Deutschen Soziologiekongressen zu heftigsten Auseinandersetzungen führte, aber auch zu einer ständigen Theorieentwicklung. Dies sei der heutigen Sozialwissenschaft abhandengekommen. Die meisten Forschungen hätten über das jeweilige Projekt hinaus keine Bedeutung, die Anwendungsfixiertheit würde zu einer Produktion von immer weiteren Ergebnissen führen, die aber nicht mehr zur Suche nach der gesellschaftlichen Wahrheit genutzt würden, sondern zur Aufwertung von Literaturlisten. Dies würde nicht nur zu einer langweiligeren Wissenschaft führen, sondern – und dies macht die Kritik über die historischen Reminizenzen relevant – auch zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Sozialwissenschaften. Wenn, so die nicht ganz so dezidiert ausgesprochene Angst, die Sozialwissenschaft auf die Ebene der Anwendung von Methoden zu Erfüllung von Projektaufträgen reduziert sei (ungefähr im Sinne von Sinus Sociovision), gäbe es kein Theorieproduktion mehr und somit auch keine Arbeit am eigentlichen Projekt der Sozialwissenschaften seit Marx, Durkheim und Weber – nämlich gesellschaftliche Prozesse zu erkennen und zu beschreiben.
Conceptual Framework
Ganz so weit geht Waseem mit der Kritik, die er zitiert, nicht. Aber auch er scheint der Überzeugung zu sein, dass „seiner“ Wissenschaft das theoretische Fundament teilweise abhanden gekommen zu sein scheint [bzw. eventuell nie vorhanden war]. Während im WZB die Hoffnung ein wenig darauf gesetzt wurde, dass sich wieder soziologische Schulen bilden würden, schlägt Waseem einen leichter gangbaren Weg vor, der relativen Ziellosigkeiten der Forschungen in der LIS entgegenwirken soll, nämlich ein Conceptual Framework.
Ein solcher konzeptueller Rahmen fasst jeweils ein Themenfeld – im Beispiel von Waseem Communities und Informationsprozesse – als strukturierbare Ansammlung von Fragen auf. Systematisiert man solche Fragenkomplexe und stellt diese Systematiserungen graphisch dar, lassen sich relativ einfach mögliche Schwerpunkte und Problemfelder ablesen, aber auch Fragen aufzeigen, die schon hinreichend in anderen Forschungsprojekten bearbeitet wurden. Letztlich stellen solche Frameworks im besten Fall Konzepte größerer Forschungsprojekte dar, welche kollaborativ bearbeitet werden können. Ein solches Vorgehen stellt zwar nicht unbedingt neue wissenschaftliche Schulen her, kann aber dazu führen, dass Forschungsfragen und -methoden in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden und sich zielgerichteter auf bislang in einzelnen Felder nicht bearbeitete Fragestellungen konzentriert werden kann. Möglich wäre es, auf diesem Wege Forschungsfragen zu etablieren oder auch im Sinne einer Open Science [also Open im Sinne von Open Source oder Web 2.0] die Sinnhaftigkeit und Zielrichtung von Forschungsprojekten transparent zu machen.
Ein weiterer möglicher Vorteil scheint zu sein, dass auch die Bearbeitung von komplexeren Fragen möglich wird, ohne substanzlos zu bleiben. Die LIS – auch die deutschsprachige – hat zum Beispiel die Tendenz empirisch vorzugehen und dabei oft relativ Projekthaft zu bleiben [d.h. Ansätze „auszuprobieren“ aber nicht weiter zu verwenden oder Ergebnisse zu produzieren, die nur der untersuchten Institution wirklich etwas bringen] oder aber in relativ allgemeinen Aussagen zu verbleiben, deren Erkenntniswert für die bibliothekarische Praxis einigermaßen fragwürdig ist. Conceptual Frameworks können dazu beitragen, Metathemen zu bearbeiten oder beispielsweise Forschungslücken aufzuzeigen [z.B. zeigen, dass es bibliothekarische Ansätze zur Zusammenarbeit mit Kitas und Schulen und zur bibliothekarischen Arbeit mit Seniorinnen und Senioren gibt, aber irgendwie keine für Menschen, die im Berufsleben stehen].
[Die Frage, wie Bibliotheken als Bildungseinrichtungen wirken / wirken können ist ein Beispiel für ein komplexes Thema, welches wohl mithilfe eines solchen Frameworks gewinnbringend bearbeitet werden kann. Das werde ich auch tun, da ich denke, die Vielfalt der Ansätze, die mit diesem Themengebiet zusammenhängen und die sich zum Teil hier bei mir auf dem Schreibtisch sammeln, sinnvoll zu fassen.]