Bibliothekarinnen und Bibliothekare haben andere Aufgaben und Zielstellungen, als Erzieherinnen von Kindergärten. Dennoch gibt es im Bezug auf Angebote für Kinder große Übereinstimmungen. Insbesondere seitdem an Kinderbetreuungseinrichtungen verstärkt die Anforderung gestellt wird, selber als Bildungseinrichtung zu agieren und nicht, wie dies oft wahrgenommen wurde, als vorrangige Bewahrungsanstalt für Kinder. Insbesondere im Bereich der Medienpädagogik und der Vermittlung von Medienkompetenz lassen sich große Überschneidungen zwischen den Aufgabenzuschreibungen an Kindergärten und Bibliotheken finden. Deshalb kann die von Ulrike Six und Roland Gimmler vorgelegte Studie zur Medienkompetenzvermittlung in nordrhein-westfälischen Kindergärten zum Teil auf die Arbeit von Bibliotheken mit Kindern übertragen werden. [Six, Ulrike ; Gimmler, Roland ; Aehling, Kathrin (Mitarb.) ; Frey, Christoph (Mitarb.) ; Vogel, Ines (Mitarb.); Schmied, Wolfram (Mitarb.) / Die Förderung von Medienkompetenz im Kindergarten : Eine empirische Studie zu Bedingungen und Handlungsformen der Medienerziehung. – Berlin : Vistas Verlag, 2007. – (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen ; 57)]
Grundfragen der Studie
Die Studie sollte im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen ermitteln, wie die Voraussetzungen der Medienpädagogik in den Kindergärten des Bundeslandes sind, mit welchen Kompetenzen die Vermittlung von Medienkompetenzen durch die Erzieherinnen erfolgt und welchen Stellenwert diese Aufgabe in der täglichen Arbeit im Kindergarten einnimmt. 1997 wurde von der Landesanstalt für Medien eine ähnliche Studie veröffentlicht, auf die sich Six und Gimmler beziehen konnten. Methodisch wurden unterschiedliche Befragungsformen kombiniert. So wurden zur quantitativen Datensammlung kürzere Telefoninterviews eingesetzt, zur Gewinnung vom qualitativen Aussagen hauptsächlich längere face-to-face-Interviews. Die Studie von 1997 ermöglichte Wiederholungsinterviews mit Erzieherinnen, die schon einmal vor 10 Jahren befragt wurden. Zudem analysierte die Studie die Inhalte der Ausbildung und Weiterbildung der Erzieherinnen.
Allgemein sind die Ergebnisse eher ernüchternd, obwohl sie differenzierter betrachtet werden müssen. Einerseits scheinen die Veränderungen des gesellschaftlichen und des kindlichen Medienkonsums, aber auch die Anstrengungen von staatlicher Seite, die Vermittlung von Medienkompetenzen in der Arbeit der Kindergärten zu verankern, nur geringe Auswirkungen auf die tatsächliche Praxis gezeitigt zu haben. [1] Andererseits ist doch die noch in der Vorgängerstudie zu verzeichnende relative Technikfeindlichkeit und die Ablehnung von modernen Medien in der Erziehung von Kindern vollständig verschwunden. Die „bewahrpädagogische“ Position, dass Kinder von allen neuen Medien fern gehalten werden müssen, scheint obsolet geworden zu sein. [2]
Abweichende Mediennutzung und Vorstellungen
Erzieherinnen sind nicht technikfeindliche und nutzen sehr wohl selber moderne Medien, doch weicht ihre Mediennutzung relevant von der durchschnittlichen Mediennutzung innerhalb der Gesellschaft ab. So schauen sie durchschnittlich 106 Minuten pro Tag fern, während es in der Gesellschaft 226 Minuten pro Tag sind, sie nutzen das Internet rund 23 Minuten am Tag und nicht, wie durchschnittlich in der Gesellschaft 108. Diese Mediennutzung, die eindeutig das Buch als Medium für die Gestaltung der Freizeit bevorzugt, schlägt sich auch auf ihre Wahrnehmung der kindlichen Mediennutzung nieder. Allgemein überschätzen Erzieherinnen die Nutzungsdauer moderner Medien durch Kinder relevant. Einzig zur Nutzungsdauer des Fernsehens können sie einigermaßen „richtige“ Schätzungen abgeben. Dabei gehen sie allerdings entgegen den Ergebnissen der Medienforschung, die eine relative Stabilität in der Nutzungszeit der Fernsehens in den letzten Jahren konstatiert, davon aus, dass Kinder heute mehr Fernsehen schauen würden, als vor zehn Jahren.
Gleichzeitig schätzen sich Erzieherinnen selbst als wenig vertraut mit den bevorzugten Medien der Kinder, die sie betreuen, ein. So sagen die bei den in 45 face-to-face-Interviews befragten Erzieherinnen, dass sie zu 20% sehr gut und zu 53,3% gut mit den Lieblingsbüchern der Kinder vertraut seien (befriedigend 17,8%, ausreichend 4,4%, mangelhaft 4,4%, ungenügend 0,0%). Die Vertrautheit mit den Lieblingsfernsehsendungen schätzen nur noch 22,2% als gut und 0,0% als sehr gut ein (befriedigend 33,3%, ausreichend 26,7%, mangelhaft 17,8%, ungenügend 0,0%). Bei den von den Kindern bevorzugten Computerspielen bezeichnen ihre Kompetenz nur noch 2,2% der Befragten als jeweils sehr gut und gut und stattdessen 31,1% als mangelhaft (befriedigend 22,2%, ausreichend 26,7%, ungenügend 15,6%).
Auffallend ist, dass die meist negativen Bewertungen der Mediennutzung von Computerspielen, Handys oder des Internets als Gesamtheit, welche durch die Erzieherinnen für Kinder angenommen werden, zumeist auf Vermutungen beruhen und argumentativ sehr schwach sind. Zumeist beschäftigen sich Erzieherinnen nicht mit den Medien, die Kinder nutzen, sehen die übermäßige Benutzung dieser Medien aber als negativ an. Wirklich begründen können sie diese Haltung selten. Dennoch verdammen sie nicht jedes Medium an sich, sondern fordern vor allem einen pädagogischen Hintergrund ein. So würden die meisten Erzieherinnen offenbar Edutainment-Software, also Programme, die das Spielen mit der Vermittlung von Bildungsinhalten verbinden [3] als gut akzeptieren, aber Software, die hauptsächlich dem Spielen dient ablehnen. Diese Haltung gilt allerdings tendenziell. Die Studie von Six und Gimmler zeigt auch auf, dass es immer wieder einzelne Erzieherinnen gibt, die differenziertere Meinungen haben und sich beispielsweise selber mit den Spielen beschäftigen, die von den jeweils betreuten Kindern erwähnt werden.
Inhalt der Medienpädagogik
Medienpädagogik – und damit auch die Vermittlung von Medienkompetenzen – findet im Kindergarten vorrangig reaktiv statt, dass heißt zumeist wird von der Erzieherinnen darauf eingegangen, wenn Kinder von ihren Medienerfahrungen berichten. Dann finden Gespräche über Medieninhalte statt, es werden Figuren nachgebastelt oder Geschichten nachgestellt, um auf diese Weise den vielfältigen Umgang mit den genutzten Medien zu erhöhen. Dies ist nicht unbedingt negativ zu sehen, da gerade ein solches kindzentriertes Vorgehen, welches von den Interessen, die durch die Kinder formuliert werden, ausgeht, heute als notwendig angesehen wird. Gleichwohl findet eine proaktive und geplante Beschäftigung mit Medien fast nie statt. Das eigenständige Erstellen von Medien, welches im Jugendbereich oft eingesetzt wird, um ein Verständnis davon, wie Medien funktionieren und was ihre Möglichkeiten und Grenzen sind, zu fördern, wird in Kindergarten nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Zudem führt die wachsende Medienvielfalt offenbar dazu, dass Kinder heute mit sehr unterschiedlichen Medienerfahrungen in den Kindergarten gehen und deshalb von sich aus auch seltener von dieser berichten. Das früher bekannte diskutieren einer Sendung, die alle gesehen hatten, ist heute offenbar nicht mehr möglich, weil es keinen Sendung mehr zu geben scheint, die alle gesehen haben. Deshalb entwickeln sich aber auch weniger Gespräche zwischen den Kindern über die gleichen Sendungen oder Spiele, an die angeknüpft werden könnte. Dies ist allerdings eine Grenze reaktiven Handelns. Wenn Kinder ihre Medienerfahrungen nicht berichten, kann an sie nicht angeschlossen werden, obwohl sie dennoch vorhanden sind. Dem könnte nur mit proaktiven Handeln begegnet werden.
Als ein großes Problem beschreibt die Studie das Verständnis vom Medienpädagogik, welches sich bei den interviewten Erzieherinnen zeigte. Zumeist würde der Einsatz von Medien für andere pädagogische Zwecke als Medienpädagogik missverstanden. Problematisch daran ist, dass Erzieherinnen offenbar die Vorstellung entwickeln können, medienpädagogisch ausreichend zu arbeiten, weil sie beispielsweise Filme und Dias für die Verkehrserziehung einsetzen. Dabei solle, so die Studie, die Medienpädagogik die Vermittlung von Medienkompetenzen zum Ziel haben, was mit einem einfach Einsatz von Medien für andere Zwecke nicht zu erreichen sei. Zudem steht bei den Erzieherinnen offenbar, wenn sie nach den Zielen von Medienpädagogik befragt werden, die Prävention vor schädlichen Medieninhalten im Vordergrund und weniger die Vermittlung von Kompetenzen, die eine eigenständigen und selbstverantwortlichen Umgang der Kinder mit Medien zum Ziel hätten. Ihre eigene Medienkompetenz schätzen die Erzieherinnen hingegen relativ gut ein, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie Kinder eher in der Gefahr sehen, durch Mediennutzung negativen Auswirkungen ausgesetzt zu sein, während sie Erwachsene (oder auch nur sich selbst) eher in der Lage sehen, kritisch mit Medien umgehen zu können.
„Deutlich wurde […], dass es den Erzieherinnen mehrheitlich an hinreichenden Grundlagen für einen angemessene, realistische Problemwahrnehmung im Hinblick auf Medien und den kindlichen Medienumgang mangelt: Mit den von den Kindern genutzten Fernsehsendungen und Computerspielen sind sie zumeist recht wenig vertraut, die Mehrheit kann sich nur auf vage Kenntnisse und Annahmen zu Medienwirkungen stützen, und nur wenige verfügen über differenzierte und begründete Kriterien zur Bewertung von Fernsehsendungen und Computerspielen. Schließlich erwiesen sich auch ihre Kenntnisse darüber, welche altersspezifischen Kompetenzen bzw. Kompetenzdefizite für den Medienumgang bei Kindern im Kindergartenalter vorauszusetzen sind, bei einem erheblichen Teil der Befragten als zu wenig fundiert.“ [S. 192]
Bedeutung des Elternhauses
Eine weitere Tendenz scheint zu sein, die Hauptverantwortung für die Mediennutzung und die Entwicklung von Medienkompetenzen dem jeweiligen Elternhaus zuzuordnen. Dies geht oft einher mit einer differenzierten Betrachtung der Schwierigkeiten, mit denen Eltern konfrontiert sind, insbesondere mit der Annahme, dass Eltern aus sozial schwächeren Haushalten mehr Schwierigkeiten hätten, ihre Kinder zu erziehen, als Eltern aus Haushalten mit höheren Sozialstatus. Allerdings scheint diese Betrachtung zumindest tendenziell die Wirksamkeit von Medienpädagogik im Kindergarten zu negieren und unter Umständen dazu führen zu können, Probleme auf die Elternhäuser abzuschieben. Offensichtlich wird in der Studie, dass dieses Problem komplexer ist, als oft angenommen wird. Einerseits gilt das Primat, dass Eltern einen Vorrang in der Erziehung ihrer Kinder eingeräumt bekommen. Zudem ist allgemein bekannt, dass die ökonomische und soziale Lage des Elternhauses die Chancen von Kindern übermäßig stark bestimmt. Andererseits werden an das gesamte Bildungssystem verstärkt Anforderungen gestellt, diese Ungleichheit zu überwinden, was logisch nur mit einer verstärkten Förderung der Kinder zu erreichen wäre, die aus schwierigen sozialen Elternhäusern stammen.
Zudem geht die allgemeine Haltung, die Hauptverantwortung für die Medienkompetenz den Elternhäusern zuzuschreiben in Kindergärten offenbar nicht mit einer Verstärkung der Elternarbeit in diesem Bereich einher. Dies wäre allerdings zu erwarten. Schließlich ist auch nicht nicht zu erklären, woher Eltern die notwendigen Kenntnisse zur Vermittlung von Medienkompetenzen haben sollen, wenn diese bei pädagogisch ausgebildeten Personal nicht ausreichend zu sein scheinen. Gerade wenn der Vorwurf an Eltern oft lautet, dass sie das Fernsehen und andere Medien zu sehr als Babysitter einsetzen würden, ist es nicht logisch zu begründen, woher diese dann mehr Überblick über die Medienerfahrungen ihrer Kinder haben sollten, als die Erzieherinnen der jeweils besuchten Kinderbetreuungseinrichtungen.
Bibliotheken
Es ist selbstverständlich nicht möglich, eine direkte Parallelität zwischen Kindergärten und der Arbeit von Bibliotheken für Kinder zu behaupten. Es ist gewiss auch nicht möglich, aus den Ergebnissen der Befragungen von Erzieherinnen direkte Schlüsse auf die Kompetenzen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zu ziehen. Doch kann man beispielsweise vermuten, dass die von der durchschnittlichen Bevölkerung relevant abweichenden Mediennutzung inklusive der Bevorzugung des Buches als Hauptmedium, die bei Erzieherinnen festgestellt wurde, auch bei bibliothekarischem Personal zu finden sein könnte. Insoweit werfen die Ergebnisse einige Fragen auf, die auf den Bereich der bibliothekarischen Arbeit für Kinder bezogen werden müssen.
- Wie ist es eigentlich mit der Medienkompetenz der Menschen bestellt, die Medienkompetenz vermitteln wollen? Wie und woher stammen eigentlich deren Kenntnisse über die Mediennutzung ihrer Klientel? Welchen Einfluss hat deren eigene Mediennutzung? Können beispielsweise Menschen, die sich selber nicht mit Computerspielen oder der erweiterten Nutzung von Handys beschäftigt, in diesen Bereichen effektiv Medienkompetenzen vermitteln? Dieses Missverhältnis sollte zumindest problematisiert werden.
- Welche Vorstellungen von der Notwendigkeit der Medienkompetenz haben Menschen, die sich an die Vermittlung derselben machen? Sehen sie die kritische Nutzung von Medien oder Warnung vor (meist angeblichen) Gefahren von Medien als Hauptthema ihrer medienpädagogischen Arbeit an? Welches Verhältnis zwischen diesem beiden Möglichen wäre (für welche Altersgruppe) angemessen?
- Das Problem, mit der Betonung der Verantwortung des Elternhauses für die Mediennutzung tendenziell die Gestaltungsmöglichkeiten der Medienkompetenz außerhalb der Elternhauses zu verneinen und dabei das Problem an die Eltern „abzuschieben“ besteht auch bei Bibliotheken. Wie ist damit umzugehen? Müssten nicht, ähnlich wie bei Kindergärten, Öffentliche Bibliotheken eine stärke Rolle dabei spielen, die Effekte unterschiedlicher sozialer Hintergründe auszugleichen? Wie steht tatsächlich, neben den wenigen bekannten Projekten, mit der „Elternarbeit“ in Bibliotheken? Ist sie möglich? Wird sie überhaupt durchgeführt? Ist diese auf Medienkompetenzen ausgelegt oder auf die Förderung des Bücherlesens?
- Falls man – wie es in der Studie getan wird – davon ausgeht, dass es notwendig ist, den Menschen, die Medienkompetenz vermitteln sollen/wollen, selber die Bedeutung von Medienkompetenz klar zu machen und mit beständig neuen Fakten zur realen Mediennutzung ihrer Klientel bekannt zu machen, dann stellt sich die Frage, wie dies geschehen soll. Offensichtlich haben bei den Erzieherinnen das Angebot von Fortbildungsveranstaltungen, Broschüren und speziellen Onlineportalen wenig Einfluss auf die Praxis der Medienpädagogik gehabt. Als ein Problem wird von der Studie die mangelhafte Finanzausstattung der Kindergärten und übermäßige Belastung des Personals genannt, aber betont, dass dies nicht der einzige Grund sein kann.
[1] So wurde seit 1997 einige Weiterbildungen zu diesem Thema angeboten und mehrere Broschüren für Kindergärtenerinnen veröffentlicht. Allerdings sind diese offenbar kaum in der Praxis bekannt geworden. Ähnlich ist dies mit den explizit zum Thema Medienkompetenz eingerichteten Portalen www.medienkompetenz-portal-nrw.de und www.kita-nrw.de.
[2] Bezeichnende Ausnahme sind zwei Erzieherinnen aus waldorfpädagogischen Einrichtungen.
[3] Und zumeist unglaublich langweilig sind. Dies hat auch damit zu tun, dass unter Edutainment solche Spiele verstanden werden, in denen der erzieherischer Effekt im eindeutigen Vordergrund steht. Andere Möglichkeiten, die in der Spielebranche ausprobiert wurden, beispielsweise Spiele, die durch ihre Einbindung in einen historischen Kontext, Wissen über die jeweilige Zeit vermitteln soll, aber gleichzeitig den Spieleffekt in den Vordergrund stellen, scheinen bei Erzieherinnen nicht bekannt zu sein. Dabei scheint bei deren Bewertung oft übersehen zu werden, dass die Popularität von Computerspielen darauf beruht, dass man mit ihnen spielen kann. Die Popularität von Bausteinen und Lego-Produkten bei Kindern basiert ja auch darauf, dass mit ihnen gespielt werden kann und nicht, dass mit ihnen auch Grundregeln der Architektur und Mechanik erlernt werden können.