Zur intellektuellen Wissensproduktion:
„Zu den verhängnisvollen Übertragungen aus dem Bereich wirtschaftlicher Planung in das der Theorie, die eigentlich gar nicht mehr vom Grundriß des Ganzen unterscheiden wird, zählt der Glaube an die Verwaltbarkeit geistiger Arbeit, nach den Maßstäben dessen, womit sich zu beschäftigen notwendig und vernünftig sei. […] Wie in der Kriegswirtschaft über Prioritäten in der Zuteilung von Rohmaterial, in der Herstellung dieses oder jenes Waffentypus entschieden wird, so schleicht sich in die Theoriebildung eine Hierarchie der Wichtigkeiten ein, mit Bevorzugung der sei’s besonders aktuellen, sei’s besonders relevanten Themen, und Hintanstellung oder nachsichtiger Duldung des nicht Hauptsächlichen, das bloß als Verzierung der Grundtatsachen, als Finesse passieren darf. Die Vorstellung vom Relevanten ist nach organisatorischen Gesichtspunkten geschaffen, die des Aktuellen mißt sich an der jeweils objektiv mächtigsten Tendenz. Die Schematisierung nach wichtig und nebensächlich unterschreibt der Form nach die Wertordnung der herrschenden Praxis, selbst wenn sie ihr inhaltlich widerspricht. In den Ursprüngen der progressiven Philosophie, bei Bacon und Descartes ist der Kultus des Wichtigen schon mitgesetzt. Am Ende aber offenbart er ein Unfreies, Regressives. […]
Das bedeutet nicht, daß die Hierarchie der Wichtigkeiten zu ignorieren sei. Wie ihre Banausie die des Systems widerspiegelt, so ist sie gesättigt mit all seiner Gewalt und Stringenz. Jedoch der Gedanke sollte sie nicht repetieren, sondern im Nachvollzug auflösen. Die Aufteilung der Welt in Haupt- und Nebentatsachen, die schon immer dazu gedient hat, die Schlüsselphänomene der äußersten zu neutralisieren, ist soweit zu befolgen, daß sie ihrer eigenen Unwahrheiten überführt wird. Sie, die alles zu Objekten macht, muß selber zum Objekt des Gedankens werden, anstatt ihn zu steuern. […]
Der Gestus der theoretischen Arbeit, der über die Themen nach ihrer Wichtigkeit disponiert, sieht ab von dem Arbeitenden. Die Entwicklung einer immer geringeren Anzahl technischer Fähigkeiten soll dazu genügen, ihn für die Behandlung jeder bezeichneten Aufgabe hinlänglich zu equipieren. Denkende Subjektivität ist aber grade, was nicht in den von oben her heteronom gestellten Aufgabenkreis sich einordnen läßt: selbst diesem ist sie nur soweit gewachsen, wie sie selber ihm nicht angehört, und damit ist ihre Existenz die Voraussetzung einer jeglichen objektiv verbindlichen Wahrheit. Die souveräne Sachlichkeit, die das Subjekt der Ermittlung der Wahrheit opfert, verwirft zugleich Wahrheit und Objektivität selber.“[Adorno, Theodor W. / Minima Moralia : Reflexionen aus dem beschädigten Leben. – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2001 <1951>, S.230-233]