(Tagebuchfunktion VII) Dialektik der Learning Society

Manchmal liest man Dinge, die einerseits einsichtig klingen, anderseits doch so, als hätte man sie anderswo schon einmal gehört. Wie hier:
Michael Welton schreibt über die inneren Widersprüche der learning society, deren Grundlage er allerdings – so die Hauptthese seines Werkes – nicht am Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts in den liberalen westlichen Demokratien, sondern in Europa des 16. und 17. Jahrhunderts verortet. (Er könnte auch -wenn man seinen Aussagen folgt – sagen, die Entstehung und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise ist mit dem Glauben an den Fortschritt verbunden gewesen. Aber so explizit macht er es bei allem Marx-Bezug doch nicht.) Die learning society ist für ihn aber nur eine heute dominierende Diskursfigur des Glaubens an den „guten Fortschritt“.

Terrible and troubled – these words speak of a paradox built into the talk of the learning society as something new appearing in the West. The word ‚learning‘ often presents itself to Western consciousness as something inherently good. But clearly, humandkind learns to imagne great and horrible things. We can learn to hate other peoples, races, religions, wealth. We can acquire techniques, carefully mentored or taught, to torture, maim, murder, bomb and harass. From the historian’s vantage point, when we lower the discourse ot the learning society into the world in which it actually exists, we discover that the language of the learning society co-exists with many horrible practices in the world. Those who celebrate the arrival of the ‚information age‘ usually think that this age is different from all others, and is pulsing with men and women who are wiser than those forlorn creatures of bygone eras. This, as we will see, is a dubious assumption.
While I am distured by the growing gap between humankind’s technical know-how and our moral paralysis in the face of the unmet needs of the multitudes of weak and suffering, I assume that the discourse of the learning society may contain utopian potential that is being prevented from release into the world. The idea of a just learning society, then, might be posited as an ideal that bridges our dreams of emancipation and the way the world actually has been shaped and formed within a capitalist optic and dynamic. My choice ot the word design betrays a foolish hope that human beings contain the potential for doing good in the world. Our actions still flow out of our cultural percetion of the world. Marx taught us that human beings make the world. But they do not choose the circumstances of its making. [p.3]
[Welton, Michael Robert / Designing the just learning society : a critical inquiry. Leicester : NIACE, 2005]

Anders ausgedrückt findet sich ein ähnlicher Gedanke, bezogen auf den Faschismus und die Shoa, bei Horkheimer/Adorno schon 1944/1947 in der Dialektik der Aufklärung.

Bildet die aufmerksame Pflege und Prüfung der wissenschaftlichen Überlieferung, besonders dort, wo sie von positivistischen Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen [1944] Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden. Was die eisernen Faschisten heuchlerisch anpreisen und die anpassungsfähigen Experten der Humanität naiv durchsetzen: die restlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten. Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird, so muß der Versuch, solcher Depravation auf die Spur zu kommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen, ehe deren welthistorische Konsequenzen ihn vollends vereiteln. […]
Bei der Selbstbesinnung über seine eigene Schuld sieht sich Denken daher nicht bloß des zustimmenden Gebrauchs der wissenschaftlichen und alltäglichen, sondern ebensosehr jener oppositionellen Begriffssprache beraubt. Kein Ausdruck bietet sich mehr an, der nicht zum Einverständnis mit herrschenden Denkrichtungen hinstrebte, und was die abgegriffene Sprache nicht selbsttätig leistet, wird von den gesellschaftlichen Maschinerien präzis nachgeholt. Den aus Besorgnis vor größeren Unkosten von den Filmfabriken freiwillig unterhaltenen Zensoren entsprechen analoge Instanzen in allen Ressorts. Der Prozeß, dem ein literarischer Text, wenn nicht in automatischer Vorausschau seines Herstellers, so jedenfalls durch den Stab von Lektoren, Herausgebern, Umarbeitern, ghost writers in- und außerhalb der Verlagsbüros unterworfen wird, überbietet an Gründlichkeit noch jede Zensur. Deren Funktionen vollends überflüssig zu machen, scheint trotz aller wohltätigen Reformen der Ehrgeiz des Erziehungssystems zu sein. In der Meinung, ohne strikte Beschränkung auf Tatsachenfeststellung und Wahrscheinlichkeitsrechnung bliebe der erkennende Geist allzu empfänglich für Scharlatanerie und Aberglauben, präpariert es den verdorrenden Boden für die gierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aberglauben. Wie Prohibition seit je dem giftigeren Produkt Eingang verschaffte, arbeitete die Absperrung der theoretischen Einbildungskraft dem politischen Wahne vor. Auch sofern die Menschen ihm noch nicht verfallen sind, werden sie durch die Zensurmechanismen, die äußeren wie die ihnen selbst eingepflanzten, der Mittel des Widerstands beraubt.
Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii -, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit. An der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten, an ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia, an all dem unbegriffenen Widersinn wird die Schwäche des gegenwärtigen theoretischen Verständnisses offenbar. [S.1-3, Vorrede]
[Horkheimer, Max ; Adorno, Theodor W. / Dialektik der Aufklärung : Philosophische Fragmente. – Frankfurt am Main : Fischer Taschenbuch Verlag, 2002 [1944]]

Allerdings nimmt Welton Horkheimer/Adorno nicht wahr. Zumindest nicht offen. Auffällig ist der Zusammenhang dennoch.
[Aber er selber generiert sich auch als Antizionist, der Israels Politik als „on-going inhumane and horrific treatment“ zu beschreiben müssen glaubt; während Horkheimer/Adorno im Abschnitt Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung die Grundlage für die Kritik einer solchen Position geliefert haben.]

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