Letzte Woche fand im WZB in Berlin eine Veranstaltung mit Vernor Muñoz, UN-Menschenrechtsbeauftragter für das Bildungswesen, statt. Dieser hatte im letzten Jahr im Auftrag der UN Deutschland besucht und das hiesige Bildungssystem begutachtet. Nach den Debatten um die PISA-Studien, war dieser Besuch letztlich auch ein weiterer Aufhänger für die Kritiken, die von verschiedener Seite am deutschen Bildungssystem vorgebracht wurden. Allerdings reagierten gerade "konservative" Kritikerinnen und Kritiker, bzw. – was in Deutschland oft zusammenfällt – solche, die eine Verbesserung des Bildungswesens gerade in einer Art Elitenförderung sehen, überhaupt nicht positiv auf diesen Besuch. Das war bei den Debatten um die PISA-Studien noch anders. Aber vielleicht war es schwieriger auf die Aussagen von Muñoz mit der Forderung nach besseren Ausstattungen für Gymnasien zu reagieren; vielleicht war es auch – so wurde auf der Veranstaltung vermutet – eine eingenommene Reaktion auf einen "Professor aus der Dritten Welt" [Costa Rica], der das deutsche Bildungssystem unter dem Blickwinkel von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit untersuchen sollte.
Zumindest kam der bisher von der Bundesregierung nicht beantwortete Bericht zum deutschen Bildungswesen zu einem differenzierteren Ergebnis, als dies nach einigen Debattenbeiträgen zu erwarten war. Dabei ist der Ansatz von Muñoz, wenn auch nicht innovativ, so doch ungewöhnlich im Rahmen der aktuellen Debatten um Bildung in Deutschland. Er insistiert nicht auf die wirtschaftlichen Erfolge von Bildung oder die messbaren Kompetenzwerte, er fragt danach, ob das Recht auf Bildung, dass immerhin Teil der von Deutschland ratifizierten Menschenrechte ist, in Deutschland umgesetzt wurde. Seine Antwort ist, gerade aufgrund seiner Erfahrungen in anderen Staaten, differenziert: "Im Prinzip ja, aber…"
Er kritisiert das mehrfach geteilte Schulsystem, den offensichtlichen Zusammenhang von Migrationshintergrund und schulische Erfolg, die Ausgrenzung von "Behinderten". Er regt beispielsweise als besonderes Thema an, darüber nachzudenken, ob es nötig ist, Eltern, die ihre Kinder unbedingt zu Hause unterrichten wollen, unbedingt mit Strafandrohungen davon abzuhalten. [Wobei anzumerken ist, dass es sich in Deutschland bei den meisten dieser Eltern um fundamentalistische Christinnen und Christen handelt, welche in der relativ gleichen Bildung, die durch die Schulpflicht hergestellt werden soll, eine säkuläre Bedrohung sehen.] Gleichzeitig vertritt er selber die Position, dass stattlich finanzierte Bildung für alle notwendig ist. Insoweit gäbe der Bericht einiges zum Diskutieren auf. Nicht zuletzt da Muñoz selber mehrfach darauf hinwies, dass die Debatte um das Bildungssystem nicht von ihm geführt werden kann, sondern in den jeweiligen Staaten, hier also Deutschland, selber geführt werden muss.
Diese Diskussion findet allerdings nicht statt, die Gründe werden unterschiedlich sein. Stattdessen gaben im Mai 2007 Bernd Overwien und Annedore Prengel den Band Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland heraus, in dem Kritikerinnen und Kritiker des deutsche Bildungssystems sich zu eben diesem äußerten. Dieser Band war letztlich der Grund für die Veranstaltung im WZB.
Nur Schulen
Auffällig war, dass einzig von Schulen und ganz kurz von Kindergärten gesprochen wurde. Nur in der Diskussion gab es einige kurze Hinweise auf die Bildung von Berufstätigen. Auch hier spiegelte sich die in der deutschen Debatte oft eingenommene Haltung wieder, dass Bildungssystem auf die Schulen oder die Erstausbildung zu reduzieren. Andere Lernorte – wie beispielsweise Bibliotheken – kamen nicht vor. Dennoch sind die getroffenen Aussagen nicht falsch, sie treffen halt nur auf einen Teil der Bevölkerung direkt zu.
Interessant wäre aber, einmal darüber nachzudenken, warum fast immer von Schulen gesprochen wird, und auf andere Lernorte bestenfalls mit dem Hinweis auf lebenslanges Lernen verwiesen wird. Eigentlich ist ersichtlich, dass Schülerinnen und Schüler, die auf lebenslanges Lernen vorbereitet werden sollen, mit dieser Fähigkeit wenig werden anfangen können, wenn sie sie tatsächlich erwerben – was zur Zeit eher bestritten wird – und es gleichzeitigt keine Infrastruktur gäbe, die dieses Lernen unterstützen könnte. Obwohl es gute Gründe gibt, sich bei Debatten um das Bildungssystem auf Schulen und jetzt auch stärker auf Kindertagesstätten zu konzentrieren, scheint es doch sympthomatisch, dass andere Lernort gar nicht vorkommen.
PISA
Den Auftakt der Veranstaltung gestaltet Jutta Allmendinger, ihres Zeichens Präsidentin des WZB und zuvor beispielsweise Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, fraglos eine der Expertinnen für Bildungsforschung in Deutschland. Sie stellte Ergebnisse der PISA-Studie 2003 dar, welche Muñoz‘ Bericht empirsch untermauern sollten.
Dabei schränkte sie die Aussagekraft der PISA-Studien ein. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung können deren Daten wenig über das Bildungssystem und dessen Auswirkungen aussagen. Mit den Daten der PISA-Studien lassen sich die kognitiven Kompetenzen von 15-Jährigen erfassen, sowie deren Zusammenhang zu einigen sozio-ökonomischen Sachverhalten. Weniger oder mehr nicht. Soziale Kompetenzen werden so beispielsweise nicht bestimmbar.
Dennoch sind die Ergebnisse nach Allmendinger eindeutig. Wir leben, so verortete sie die Ergebnisse, in einer Zeit der Bildungsstagnation, nicht mehr der Bildungsexpansion. Und dies auf einem international relativ niedrigen Niveau. Chancengleichheit ist im Bereich der Bildung nicht gegeben. Insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund nicht. Deutschland ist das einzige der PISA-Staaten, in der die zweite Generation dieser Menschen geringere Kompetenzen aufweisen, als Menschen mit Migrationshintergrund der ersten Generation.
Zudem wies Allmendinger darauf hin, dass entgegen dem politisch gewünschten Trend, die Weiterbildung in Deutschland in den letzten Jahren – zumindest die organisierte – massiv zurückgegangen ist.
Muñoz
In seinem Redebeitrag wies Vernor Muñoz zuerst darauf hin, dass er nur eine Momentaufnahme des deutschen Bildungssystems erfassen konnte. Die historische Entwicklung nachzuzeichnen sei nicht seine Aufgabe gewesen. Er habe darauf zu achten gehabt, ob das Recht auf Bildung für alle in der deutschen Gesellschaft gegeben sei.
Menschenrechte sind, so seine Überzeugung, für die Entwicklung der menschlichen Würde notwendig, egal ob ihre Umsetzung beispielsweise ökonomisch sinnvoll sei oder nicht. Und diese Rechte beträfen nicht nur armen Länder. Dabei stellte Muñoz heraus, dass er der Bundesrepublik nicht die absichtliche Missachtung von Menschenrechten vorwerfen würde oder ein vollständiges Versagen bei der Umsetzung derselben – auch wenn er mehrfach an die deutsche Einwanderungsgesetzgebung und die Behandlung der UN-Kinderrechtskonvention durch die BRD anspielte. Nicht zuletzt sei die Angst der Illegalisierten, also der Menschen ohne legalen Aufhaltsstatus, ihre Kinder in Deutschland zu Schule zu schicken, letztlich eine nicht-intendierte Form der Bildungsverweigerung, die in anderen Staaten in dieser Form nicht vorkommt.
Er betonte mehrfach, dass es Aufgabe der deutschen Gesellschaft wäre, sich Gedanken über sein Bildungssystem zu machen. Dabei konstatiert er einen Unwillen, dass "komplizierte Schulsystem" zu analysieren. Eine solche Analyse sei aber notwendig, da etwas, dass eventuell einmal richtig und fortschrittlich war, es im Bezug auf die Menschenrechte nicht mehr sein muss. Eine Diskussion muss allerdings nicht gleich zur Abschaffung führen.
Er fragte, ob die Konzentration auf die deutsche Sprache im Unterricht der richtige Weg sei oder ob nicht vielleicht, wie in anderen Staaten, der Unterricht in der jeweiligen Erstsprache der Schülerinnen und Schüler einen größeren Platz erhalten sollte. Den Förderalismus, gerade im Bildungsbereich, beschrieb er als überdenkenswert. Zudem regte er an, das pädagogische Niveau der Lehrerinnen und Lehrer zu verbessern.
Diskussion
Annedore Prengel stellte in der Diskussion die These auf, dass es im deutschen Bildungssystem mehr und mehr zu einer Spaltung in gute vs. schlechte Schulen gekommen sei. Und dies nicht nur im Bezug auf die vermittelten Kompetenzen, sondern auch im Bezug auf den alltäglichen Umgang miteinander in diesen Schulen. Dabei würde in einer Schule, in der weder zwischen den Lernenden untereinander, noch zwischen Lehrenden und Lernenden ein guter Umgang herrsche, dass Lernen nahezu unmöglich sein.
Marianne Demmer, stellvertretende Vorsitzende der GEW, stellte die pädagogischen Ausbildung im Bezug auf die Einwanderungsgesellschaft Deutschland in den Mittelpunkt. Ihrer Meinung nach gibt es keine Vorbereitung auf die Mehrsprachigkeit, die heute in Klassenräumen herrscht. Dies kollodiert mit dem von Demmer vertretenen Recht auf die eigene Sprache der Kinder, sowohl im Bezug auf das Herkommen der Sprache als auch der spezifischen Form der Kinder- und Jugendsprachen. Die Ausbildung für deutsche Lehranstalten finde immer noch für eine nach Herkunft, Sprache und Kultur einheitliche Gesellschaft statt, die sich einzig in der erreichenbaren Kompetenzstufe differenzieren würde, was dann wieder im gegliederten Schulsystem und der Ausbildung für dieses niederschlüge. Dieses Vorgehen sei allerdings nicht nur inhaltlich falsch, es führe auch ungesehen zu einer Chanchenungleichheit. Recht auf Bildung wird, so Demmer, als Recht auf den Zugang zu Bildungseinrichtungen für alle wahrgenommen, nicht als inhaltliches Recht, die selbstbestimmte beste Bildung anzustreben und zu erhalten.
Hierzu ergänzte Vernor Muñoz einen eigentlich bekannten, aber doch in der deutschen Debatte doch oft unterschlagenen Fakt: In 40 Jahren wird die demographische Zusammensetzung gänzlich anders sein, als heute. Wie genau, ist schwierig zu sagen, aber sie wird zumindest mit der heutigen wenig gemeinsam haben.
Marianne Krüger-Potratz von der Universität Münster forderte klare Zielsetzungen der Bildungspolitik. Bisher sei diese vorallem ein planloses Aneinanderreihen von Versuchen ohne erkennbare – und dann eventuell auch zu kritisierende – Strategie. Hierzu ergänzte Jutta Allmendinger, dass es in Deutschland "Tausende von Projekten" im Bildungsbereich, aber keine Evaluationen oder Dokumentationen gäbe.
Weiter forderte Krüger-Potratz, überhaupt einmal umfassende Daten über die Schülerinnen und Schüler in deutschen Schulen zu erheben. Bisher rede man zum Beispiel bei den Sprachfähigkeiten nur von Annahmen. Außerdem stellte sie die These auf, dass sich die deutsche Einwanderungspolitik bis in die 1970er in den Umgang mit den Nachkommen der damaligen Einwandernden durchgeschlagen hätte. Man hätte damals Einwandernde für unqualifizierte Jobs gesucht und letztlich die Menschen, die kamen, als Menschen wahrgenommen, die genau für die Jobs ausgebildet wäre. Das war damals schon falsch. Dennoch würde man auch heute von Kindern und Jugendlichen mit einen sichtbaren Migrationshintergrund ähnlich annehmen, dass sie kaum für mehr als die Grundbildung aufnahmefähig seien. Was auch heute noch falsch ist, sich aber auf den Umgang mit ihnen im Bildungssystem niederschlagen würde.
Schlusswort
In seinem Schlusswort vor der ausufernden offenen Debatte, erinnerte Vernor Muñoz noch einmal daran, dass Bildung ein Menschenrecht und als solches in sich selbst begründet sei. Bildung könne vieles, aber sie könne beispielsweise nicht die Probleme der Wirtschaft lösen. Dies sei, wie auch die Verteilung von Reichtum, die in Deutschland so offensichtlich mit der genossenen Bildung und der Möglichkeit, Bildung zu erlangen, zusammenhänge, ein gesellschaftlich zu verhandelndes Thema.
Thema Bibliotheken
Über Bibliotheken, auch und gerade verstanden als Bildungseinrichtungen, wurde in dieser Veranstaltung kein Wort verlohren. Wie schon angedeutet, wurde das Bildungssystem nahezu vollständig auf Schulen reduziert. Dennoch haben sich Bibliotheken als Lern- und Lehrorte im Rahmen dieses Bildungssystems und innerhalb derselben Gesellschaft zu verorten.
Zudem sich viele Anfragen an und Kritiken des Bildungssystems, die in der Veranstaltung und dem Bericht Vernor Muñoz‚ vorkamen, auf Bibliotheken übertragen lassen.
- Auch bei Bibliotheken stellt sich Frage, was genau Bildung bedeuten soll, bzw. was sie nützen soll. Ist sie da, um Kompetenzen zu vermitteln? Wenn ja, welche? Ist sie ein Mittel zur "Nachbildung" für den Arbeitsmarkt? Ist sie ein Menschenrecht?
- Auch Bibliotheken haben mit einer multisprachigen Gesellschaft zu tun. Sind sie darauf eingerichtet? Was ist mit der pädagogischen und multikulturellen Ausbildung des Bibliothekspersonals?
- So wie das Bildungssystem nicht nur aus Schulen besteht, besteht es auch nicht nur aus Bibliotheken. Der Zusammenhang zu anderen Bildungseinrichtungen müsste geklärt werden. Gerade unter der Prämisse, dass einige von ihnen ebenso oft "vergessen" werden, wenn um Bildung diskutiert wird.
- Die Feststellung von Marianne Demmer, dass das Recht auf Bildung vorrangig als Recht auf den gleichen Zugang zu Bildungseinrichtungen verstanden wird und nicht als Recht auf Chancengleichheit, trifft auf Bibliotheken in weiten Bereichen zu.
- Ebenso trifft die Feststellung von Jutta Allmendinger, dass es im Bildungsbereich zwar "Tausende von Projekten", aber kaum Evaluationen dieser Projekte gäbe, auf Bibliotheken ebenso zu. Interessanterweise bezog Allmendinger diese Aussage nicht so sehr auf Schulen, als auf die Bildungsprojekte, die von der Bundesanstalt für Arbeit getragen wurden. Eventuell ist diese Eigenheit, Projekte zu machen, aber wenig darüber verlautbaren zu lassen, mehr ein deutsches Phänomen, als eines von Bibliotheken alleine.
- Und nicht zuletzt ist das "komplizierte" System des Förderalismus im Bildungsbereich, dass Vernor Muñoz ansprach, auch für Bibliotheken relevant.
Nachtrag: Ein anderer Bericht zur Veranstaltung findet sich in Mandy Schiefners Blog education & media.